Silicon Jungle
vergessen. Die Art, wie sie saß – eine Hand unterm Kinn, die andere auf der Maus –, verriet ihm, dass sie wie jeden Tag viel zu viele Stunden lang immer wieder ihre Website aufgerufen hatte, um zu sehen, ob jemand einen neuen Beitrag in eines der Foren von EasternDiscussions gepostet hatte.
Als Stephen näher kam, erzählte sie ihm gleich aufgeregt von einer Nachricht, die am Nachmittag gepostet worden war. Andrews Manipulation am Ranking hatte noch keine Wirkung gezeigt, weshalb jeder einzelne neue Post aufregend war. Aber sie verstummte mitten im Satz, als sie sah, dass Stephen, ohnehin schon wackelig, förmlich in sich zusammenklappte. »Na komm, Schlafmütze, gehen wir ins Bett.«
»Ich kann jetzt nicht schlafen gehen, Molly. Ich muss noch so viel bis morgen erledigen. Einer von Atiqs Freunden ruft mich morgen wegen eines Projekts an, das ich eigentlich schon fertig haben müsste. Ich hab noch nicht mal angefangen.«
»Kannst du Kohan nicht bitten, dass er das heute Nacht für dich macht?«
»Der ist nicht da. Ich erzähl dir später, wieso. Das mit Kohan und Andrew ist noch so seine Geschichte …«
»Dann schlaf doch wenigstens ein paar Stunden. Ich weck dich dann, wenn ich ins Bett komme. Na los, ich leg mich noch ein bisschen zu dir.«
Er legte die Hände ungeschickt um ihren Kopf und zog sie an sich. »Danke«, sagte er und schon sank sein Kopf tiefer und die Augen fielen ihm zu.
»Na, na. Komm mit.« Sie führte ihn ins Schlafzimmer. Dort lagen sie dann in der Dunkelheit eng aneinandergeschmiegt.
Und in dem benebelten Zustand, der dem Schlaf manchmal vorausgeht wie eine kleine Ewigkeit zwischen den letzten bewussten Momenten und der tief entspannten Ruhe der Bewusstlosigkeit, dunkel und friedlich, sah er träge zu, wie seine Gedanken sich mit den Erlebnissen des Tages verwoben und als Träume Gestalt annahmen.
Stephen öffnete blinzelnd die Augen, als er von nebenan seltsame Geräusche hörte. Molly lag noch immer neben ihm, er spürte ihren gleichmäßigen Atem sanft im Nacken.
»Molly, wach auf.« Er legte die Hand auf ihr nacktes Bein, versuchte, sie sachte wach zu rütteln. »Da draußen ist jemand.«
Herzrasen. »Molly, wach auf. Ich glaube, es ist jemand in der Wohnung.«
Sie rührte sich nicht.
Unter der geschlossenen Schlafzimmertür hindurch flackerte blaues Licht in seine weit aufgerissenen Augen. Die Stimmen von draußen wurden lauter. Bloß der Fernseher. Kein Grund zur Beunruhigung.
Raus aus dem Bett. Zur Tür. Im Nebenraum tastete er nach dem Lichtschalter, konnte ihn aber nicht finden. Der weiße Blitz einer Kamera. Molly? Wieder ein Blitz. Molly unter einem Bettlaken, in einem Bett, wach, panisch.
»Was machst du da, Molly? Ich dachte, du schläfst nebenan.«
Sie sah nicht zu ihm herüber. Wieder ein Kamerablitz.
»Das ist perfekt«, rief eine Stimme aus der Dunkelheit. »Jetzt nimm das Laken weg.« Sie tat wie geheißen. Warme weiße Haut auf kühlen weißen Laken. »Molly, nicht so schüchtern.« Die Stimme klang vertraut. »Na los, Molly, du siehst toll aus.« Sie sah wirklich toll aus. Die Stimme – es war Andrew.
»Achtung.« Blitz. Blitz. »Perfekt. Das nenn ich mal einen schönen Anblick«, hörte er jetzt Yuri sagen.
»Was macht ihr da?«, dachte Stephen, oder vielleicht sagte er es auch.
»Schsch. Stephen«, rief Molly ihm vom Bett aus zu. »Komm, leg dich zu mir.« Nein. Nein. Wieder ein Blitz. »Yuri macht gleich die Videokamera an. Komm her zu mir.«
Stephen wich weiter zurück in die Ecke. Seine Hände tasteten über die leere Wand. Wo war der Lichtschalter?
»Hab keine Angst«, rief Molly beschwichtigend. »Sie haben versprochen, die Aufnahmen niemandem zu zeigen. Sie sind nur für dich und mich. Ich dachte, sie würden dir gefallen.«
»Nur für euch zwei«, bestätigte Andrew. Blitz. Grellweiße Zähne. Verzerrtes Grinsen.
Vier unvollkommene Halbmonde zeichneten sich rot auf seiner Handfläche ab. Fingernägel, die sich in die Haut bohrten.
»Es reicht«, befahl Stephen mit jähem Selbstvertrauen. Die Blitze hörten auf. Um ihn herum glimmten drei LCD-Bildschirme mattgrau. »Such nach den Bildern, Stephen. Mal sehen, ob das klappt.« Er fand die Buchstaben auf einer Tastatur, M-O-L-L-Y . Insgesamt 10 522 Treffer in 0,0003 Sekunden. Auf den Bildschirmen erschienen lauter Foren, in denen eingehend über Molly diskutiert wurde. User posteten, chatteten und tauschten Meinungen aus – es ging ausschließlich um Yuris Bilder. Mit einem lauten
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