Silo: Roman (German Edition)
diesem Mädchen herlief, sie hochhob und zur Ruhe
zu bringen versuchte. Dann verpufften die Geister der Vergangenheit. Das letzte
Echo verklang, sie stand allein und nackt in der Tür.
Als ihre Augen sich
an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte sie eine Rezeptionstheke am Ende der
Halle erkennen. Das Licht wurde von Glasfenstern zurückgeworfen, die genau da
waren, wo sie sein sollten. Das Stockwerk hatte denselben Grundriss wie die
Säuglingsstation ihres Vaters in den mittleren Stockwerken, wo sie nicht nur
geboren, sondern auch aufgewachsen war. Kaum zu glauben, dass sie hier woanders war. Dass andere Kinder hier geboren worden waren, gespielt hatten und
aufgewachsen waren, in einer Senke hinter dem nächsten Hügel – und sie alle
hatten nichts voneinander gewusst. Vielleicht lag es daran, dass sie in der Tür
einer Säuglingsstation stand, aber sie konnte nicht anders, als an all die
Leben zu denken, die hier gelebt worden waren. Menschen waren hier
aufgewachsen, hatten sich verliebt und ihre Toten begraben.
All diese Menschen
da draußen . Menschen, deren Knochen und Asche sie mit ihren Stiefeln
zertreten hatte, als sie in den Silo hineingeklettert war. Juliette fragte
sich, wie lange es wohl her war, dass diese Menschen aus dem Silo geflohen
waren. Und was war überhaupt geschehen?
Mit einem letzten
Blick und einem letzten Bedauern, dass sie ihren Vater nicht besucht hatte, als
sie die letzten Male an seinem Stockwerk vorbeigegangen war, schloss Juliette
die Tür zur Kinderstation und versuchte, ihre Lage einzuschätzen. Es war gut
möglich, dass sie sich mutterseelenallein in einem sterbenden Silo befand. Die
Freude darüber, dass sie noch am Leben war, verflüchtigte sich schnell und
wurde durch ein Gefühl der Einsamkeit und der Verzweiflung ersetzt. Ihr Magen
grummelte. Sie roch noch immer die widerliche Suppe und schmeckte ihre eigene
Magensäure, die sie vor Anstrengung heraufgewürgt hatte. Sie brauchte Wasser.
Sie brauchte Kleider. Diese Grundbedürfnisse wurden so existenziell, dass die
Aussichtslosigkeit ihrer Situation erst einmal in den Hintergrund trat.
Wenn der Grundriss
derselbe war, würde die erste Hydrokulturfarm vier Stockwerke weiter unten zu
finden sein und die größere der beiden landwirtschaftlichen Anlagen des oberen
Bereichs direkt darunter. Juliette zitterte, weil von unten kalte Luft
heraufzog. Das Treppenhaus hatte seine eigene Thermik, und je tiefer sie kam,
desto kälter würde es werden. Sie ging trotzdem weiter. Je tiefer, desto
besser.
Auf dem nächsten
Stockwerk versuchte sie, die Tür zu öffnen. Es war zu dunkel, um weiter als bis
zum ersten Flur hineinzusehen, Juliette hatte aber das Gefühl, dass dort Büros
oder Arbeitsräume in der schwarzen Stille lagen. Sie versuchte sich zu
erinnern, was in ihrem eigenen Silo im Vierzehnten untergebracht war, wusste es
aber nicht und schüttelte über sich selbst den Kopf. Der obere Teil ihres
Zuhauses war ihr tatsächlich unbekannt – und folglich waren ihr die
entsprechenden Stockwerke auch in diesem Silo fremd.
Sie steckte ihr
Messer so in das Bodengitter, dass es die Tür offen hielt und das Licht
zumindest bis zu den ersten paar Räumen hineinfiel.
An den Türrückseiten
hingen keine Overalls, aber einer der Räume war als Konferenzzimmer
hergerichtet. Das Wasser in den Krügen war längst verdunstet, die violette
Tischdecke allerdings sah warm genug aus. Sie würde zumindest nicht länger
nackt herumlaufen müssen. Juliette räumte die Tassen, Teller und Krüge beiseite
und zog die Tischdecke ab. Sie wickelte sie sich um die Schultern, stellte aber
fest, dass sie hinunterrutschen würde, sobald sie sich bewegte, weshalb sie
versuchte, die Enden zusammenzuknoten. Als auch das nicht befriedigend war,
lief sie zurück auf den Treppenabsatz, ins Licht, und legte die Decke dort ab.
Sie zog das Messer aus dem Gitter – hinter ihr schloss sich quietschend die Tür –, stach es durch die Mitte der Tischdecke und machte einen langen Schnitt
hinein. Dann steckte sie den Kopf hindurch, und die Tischdecke hing ihr vorn
und hinten bis über die Füße. Ein paar Minuten später hatte sie den
überschüssigen Stoff abgeschnitten und daraus einen Gürtel gebunden. Ein
weiteres Stück Stoff wickelte sie sich um den Kopf, damit sie auch dort keine
Wärme verlor.
Es fühlte sich gut
an, dieses improvisierte Kleid anzufertigen, eine Lösung für ein konkretes
Problem gefunden zu haben. Sie hatte ein Werkzeug, notfalls eine Waffe,
Weitere Kostenlose Bücher