Silo: Roman (German Edition)
Vom unteren Ende der Leiter aus schaute er zu, wie
Bernard die ersten paar Stufen zu ihm herunterstieg, dann das Gitter wieder
zuzog und sie beide einschloss – in diesem dunklen Kerker unter dem bereits festungsartig
gesicherten Serverraum.
»Du bekommst jetzt
ein Geschenk«, sagte Bernard in der Dunkelheit. »So wie ich dieses Geschenk
einst bekommen habe.«
Er knipste ein Licht
an, und Lukas sah seinen Chef irr grinsen, die Wut von vorhin schien verflogen.
Hier stand ein neuer Mann vor ihm, ein selbstbewusster und erwartungsvoller
Mann.
»Der ganze Silo und
sämtliche Bewohner sind von dem abhängig, was ich dir jetzt zeigen werde«,
sagte Bernard. Er winkte Lukas den nun hell erleuchteten, aber schmalen Gang
entlang in einen dahinterliegenden größeren Raum. Lukas fühlte sich von jedem
anderen Menschen im Silo abgeschnitten, er war gleichzeitig neugierig und
verängstigt. Er war sich nicht sicher, ob er die Verantwortung übernehmen
wollte, von der Bernard da sprach, und er verfluchte sich selbst, weil er es
einfach geschehen ließ.
42. KAPITEL
»Ein siegeprangend Grab soll dich empfangen!
Ein Grab? Nein, eine Leucht, erschlagner Jüngling!
Denn hier liegt Julia: ihre Schönheit macht
Zur lichten Feierhalle dies Gewölb!«
Juliette
ließ ihren mit Suppe verschmierten Helm auf dem Boden liegen und schwankte in
Richtung des blassgrünen Lichts. Es schien ihr etwas heller geworden zu sein,
sie fragte sich, wie viel Licht wohl von dem Visier in ihrem Helm absorbiert
wurde. Sie kam allmählich wieder zur Besinnung, und sie dachte daran, dass sie
ja nicht durch normales Glas schaute, sondern durch einen Monitor, der die Welt
dort draußen mit einer Schicht von Lügen überdeckt hatte.
Der Gestank ihres
suppegetränkten Anzugs hing an ihr, der Geruch nach verdorbenem Gemüse und
Schimmel – oder möglicherweise der Geruch der giftigen Gase aus der Außenwelt.
Ihr brannte ein bisschen der Hals, als sie die Kantine in Richtung Treppenhaus
durchquerte. Es juckte sie am ganzen Körper, und sie wusste nicht, ob sie sich
vor lauter Angst etwas einbildete oder wirklich etwas in der Luft lag. Sie
wollte nicht das Risiko eingehen, es herauszufinden, also hielt sie den Atem an
und lief, so schnell ihre geschwächten Beine sie trugen, um die Ecke, dorthin,
wo das Treppenhaus sein musste.
Diese Welt ist die
gleiche wie meine Welt , dachte sie, als sie im matten Schein der Notbeleuchtung die ersten
Stufen hinunterstolperte. Gott hat mehr als eine Welt gebaut .
Ihre schweren
Stiefel, von denen immer noch die Suppe tropfte, rutschten auf den
Metallstufen. Auf dem Treppenabsatz im zweiten Stock machte sie eine Pause und
holte ein paarmal tief Luft, was schon weniger schmerzhaft war, und sie dachte
darüber nach, wie sie den schweren und sperrigen Anzug am besten loswerden
könnte. Sie sah auf ihre Arme hinunter. Die Verurteilten brauchten Hilfe, um
überhaupt in das Ding hineinzukommen. Es gab Doppelreißverschlüsse am Rücken,
unzählige Klettverschlüsse und meterweise hitzebeständiges Klebeband. Sie besah
das Messer in ihrer Hand und war plötzlich dankbar, dass es ihr nicht aus der
Hand gefallen war, nachdem sie den Helm damit geöffnet hatte.
Sie umfasste das
Messer mit einem Handschuh und setzte die Spitze vorsichtig an ihrem Unterarm
an. Sie bohrte die Spitze hinein und schob die Klinge so über ihren Arm, dass
sie sich nicht stechen würde. Das Material war schwer zu schneiden, aber sie
drehte den Griff in kleinen Kreisen, und schließlich bildete sich ein Riss. Sie
schob das Messer in diese kleine Öffnung, die stumpfe Seite an ihrer Haut, und
schob es am Arm entlang zur Hand. Als die Messerspitze durch den Stoff zwischen
ihren Fingern glitt, bekam sie die Hand frei, und der Ärmel hing ihr vom
Ellbogen.
Juliette setzte sich
auf das Gitter, nahm das Messer in die jetzt freie Hand und bearbeitete die
andere Seite. Sie befreite auch diese Hand – wobei ihr ununterbrochen Suppe von
den Schultern auf die Arme tropfte. Als Nächstes machte sie sich an den Rumpf.
Ohne die Handschuhe hatte sie das Messer besser im Griff. Sie pellte die äußere
Metallschicht von sich ab wie die Schale einer Orange. Der Halsring ihres Helms
musste bleiben – er war an dem Karbonfaseranzug befestigt, den sie darunter
trug –, aber Stück für Stück entfernte sie den schimmernden äußeren Anzug, der
mit einer ekligen Substanz verschmiert war. Teilweise Suppe, teilweise noch
Spuren von ihrem Marsch über die Hügel, nahm sie
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