Silo: Roman (German Edition)
meinen Sie, auf
welcher Seite stehen die Träger? Oder die Leute in der Mitte?«
»Die in der Mitte
sehen sich größtenteils als welche von oben an. Das weiß ich, weil ich da
aufgewachsen bin. Sie gehen die Aussicht angucken und essen anschließend in der
Kantine, damit sich der Aufstieg gelohnt hat. Die von oben sind noch eine
andere Frage, ich glaube, da besteht mehr Hoffnung.«
Knox war sich nicht
sicher, ob er sie richtig verstanden hatte. »Wie bitte?«
Sie sah zu ihm auf,
und Knox spürte, wie der Hund an seinen Stiefeln schnüffelte.
»Ist doch eigentlich
ganz logisch«, sagte McLain. »Warum sind Sie selbst so wütend? Weil Sie eine
gute Freundin verloren haben? Das passiert andauernd. Nein, weil man Sie Ihr
Leben lang angelogen hat. Und das werden die von oben genauso sehen, ganz
sicher. Sie haben schließlich die Verurteilten vor Augen, die draußen auf dem
Hügel liegen. Das Problem sind die in der Mitte, die Leute, die nach oben
wollen, ohne eine Ahnung zu haben, wie es dort eigentlich ist, und die
gleichzeitig ohne großes Mitgefühl auf uns herabsehen. Die werden schwer zu
überzeugen sein.«
»Aber ganz oben
haben wir Verbündete?«
»Die wir von hier
nicht erreichen, ja. Wir müssten erst hinaufgehen und sie überzeugen. Eine schöne
Rede halten wie die, mit der Sie meine Leute um den Finger gewickelt haben.«
Sie schenkte ihm
eines ihrer seltenen Lächeln, und Knox strahlte unwillkürlich zurück. Und in
diesem Moment wusste er plötzlich, warum die Leute aus der Versorgung ihr so
treu ergeben waren. Es funktionierte so ähnlich wie seine eigene Wirkung auf
andere, lediglich aus einer anderen Motivation heraus. Vor ihm hatten die
Menschen Angst, sie kamen ihm nah, um sich sicher zu fühlen. Aber McLain wurde
respektiert, die Menschen kamen ihr nah, weil sie von ihr geliebt werden
wollten.
»Das Problem wird
sein, dass wir an der Mitte vorbeimüssen, um zur IT zu kommen. Wir müssen da schnell durch, ohne einen Kampf anzufangen.«
»Ich dachte, wir
stürmen einfach hoch«, grollte Knox. Er lehnte sich zurück und sah nach dem
Hund unter dem Tisch, der zur Hälfte auf seinem Stiefel lag und ihn blöd
anguckte, mit heraushängender Zunge und wedelndem Schwanz. Knox sah in dem Tier
nur eine pelzige Kugel aus Fleisch, das er nicht essen durfte. Er schubste das
schmuddelige Ding von seinem Stiefel. »Hau ab«, sagte er.
»Jackson, komm her.«
McLain schnipste mit den Fingern.
»Ich verstehe nicht,
warum Sie sich diese Viecher halten, und schon gar nicht, warum Sie noch mehr
davon züchten.«
»Natürlich verstehen
Sie das nicht«, sagte McLain. »Hunde tun der Seele gut, aber das funktioniert
nur, wenn man überhaupt eine hat.«
Er sah sie an, ob
sie das ernst meinte, und stellte fest, dass das Lächeln um ihre Lippen noch
ein bisschen deutlicher geworden war.
»Wenn wir diese
Sache in Ordnung gebracht haben, dann setze ich mich dafür ein, dass auch für
Hunde eine Lotterie eingeführt wird. Damit wir die Population unter Kontrolle
kriegen.« Er erwiderte ihr sarkastisches Lächeln. Der Hund winselte, bis McLain
unter den Tisch griff und ihn streichelte.
»Wenn wir alle so
loyal wären wie Jackson hier, dann wäre so ein Aufstand niemals nötig«, sagte
sie und schaute zu Knox auf.
Er senkte den Kopf
und konnte ihr nicht zustimmen. Im Laufe der Jahre hatte es auch in der
Mechanik gelegentlich Hunde gegeben, er wusste, was einige seiner Kollegen für
diese Tiere empfanden. Trotzdem konnte er noch immer nicht nachvollziehen, wie
man seine hart verdienten Wertmarken für Futter ausgeben konnte, obwohl man von
einem Hund nie etwas zurückbekam. Als Jackson zu ihm zurückkam, sich an sein
Knie schmiegte und winselte, weil er gestreichelt werden wollte, ließ Knox die
Hände trotzig auf dem Tisch liegen.
»Was wir für den Weg
nach oben brauchen, ist ein Ablenkungsmanöver«, sagte McLain. »Irgendetwas,
damit in der Mitte nicht so viele Leute auf der Treppe unterwegs sind. Am
besten wäre, wenn sie alle oben in der Kantine sitzen und gar nicht
mitbekommen, dass wir mit so vielen Leuten unterwegs sind.«
»Wir? Moment, Sie
wollen doch wohl nicht …«
»Wenn meine Leute da
hochgehen, dann gehe ich natürlich mit.« Sie legte den Kopf schief. »Ich steige
seit fünfzig Jahren im Lager die Leitern hoch und runter. Meinen Sie, ein paar
Stockwerke können mich da schrecken?«
Knox war sich nicht
sicher, ob sie überhaupt irgendetwas schrecken konnte. Jacksons Schwanz klopfte
gegen das
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