Silo: Roman (German Edition)
wachsen sollte, die
Flüssigkeit schmeckte brackig und faul – aber nass. Und der Geschmack war nicht
chemisch oder giftig, sondern organisch faul. Eigentlich schmeckte es nur ein
bisschen weniger gut als das Öl und Schmierfett, in dem ihr Körper die letzten
zwanzig Jahre quasi eingelegt gewesen war.
Sie trank, bis sie
keinen Durst mehr hatte. Und dann ging ihr auf: Wenn sie Wasser hatte, dann gab
es vielleicht noch mehr Krumen, mehr Hinweise, dann könnte sie vielleicht lange
genug leben, um sie zu sammeln.
Bevor sie
weiterging, brach Juliette das Endstück eines Rohrs ab, an dem an einer Seite
die Verschlusskappe noch befestigt war. Das Rohr hatte einen Durchmesser von
nur zweieinhalb Zentimetern und war einen halben Meter lang, aber es würde
reichen, um ein bisschen Wasser zu transportieren. Sie füllte den
improvisierten Behälter und wusch sich die Hände und Arme, weil sie immer noch
Angst hatte, von draußen kontaminiert zu sein.
Als das Rohr voll
war, ging Juliette zurück zu der beleuchteten Tür am Ende des Ganges. Es gab
drei Hydrokulturfarmen, jeweils mit geschlossenen Wasserkreisläufen, die sich
durch lange, geschwungene Korridore wanden. Sie versuchte, im Kopf zu
überschlagen, wie groß die Reserven auf diesem Stockwerk sein würden, und sie
kam zu dem Schluss, dass sie genug zu trinken hatte für eine sehr lange Zeit.
Der Nachgeschmack war so unangenehm, dass sie sich nicht gewundert hätte, wenn
sie Magenkrämpfe bekommen hätte, aber wenn es ihr gelänge, ein Feuer zu
entfachen, wenn sie genügend Stoff oder Papier zum Verbrennen fand, dann würde
sie das Wasser vielleicht abkochen können.
Im Treppenhaus
schlug ihr erneut der starke Modergeruch entgegen. Sie nahm das Messer an sich
und lief weiter nach unten, fast zweimal um die Wendeltreppe herum und bis zum
nächsten Absatz. Sie öffnete die Tür und wich kurz zurück, der Geruch kam
eindeutig von den landwirtschaftlichen Anlagen. Und wieder hörte Juliette den
Motor summen, diesmal lauter. Sie brachte ihren Türstopper an, lehnte ihr
Wasserrohr ans Geländer und ging hinein.
Der Geruch der
Pflanzen war überwältigend. Vor sich im matten Licht sah sie buschige Arme über
die Geländer in den Weg ragen. Sie sprang über das Sicherheitstor, tastete sich
bis an die Wand vor und wartete erneut, dass ihre Augen sich an die Dunkelheit
gewöhnten. Irgendwo lief definitiv eine Pumpe. Sie hörte Wasser tröpfeln,
entweder aus einem Leck oder aus einem funktionierenden Wasserhahn. Juliette
bekam eine Gänsehaut, als ihr ein Zweig über den Arm strich. Der Geruch war
jetzt eindeutig. Irgendwo vergammelten Obst und Gemüse, am Boden oder noch an
der Pflanze. Sie hörte Fliegen summen, das Geräusch von Leben.
Sie griff an einen
dicken Stamm und tastete daran herum, bis ihre Hände etwas Glattes spürten.
Juliette zog an dem Busch und hielt eine große Tomate ins Licht. Ihre
Zeitschätzung bezüglich des Silos geriet ins Wanken. Wie lange würde eine
solche Farm aus sich selbst heraus neue Pflanzen treiben? Mussten Tomaten gesät
werden, oder kamen sie jedes Jahr wieder, wie Unkraut? Sie wusste es nicht
mehr. Sie biss ab, die Tomate war noch nicht ganz reif. Plötzlich hörte sie ein
Geräusch hinter sich. War noch eine Pumpe angegangen?
Sie drehte sich
gerade noch rechtzeitig um, um zu sehen, wie sich die Tür zum Treppenhaus
schloss. Auf der Farm war es jetzt stockdunkel.
Juliette erstarrte.
Sie versuchte sich einzureden, dass ihr Messer von ganz allein aus dem Gitter
gerutscht und hinuntergefallen sein könnte. Sie wartete auf das Geräusch des
Aufpralls. So ganz ohne Licht schien ihr Gehör auf ansonsten unbenutzte Teile
ihres Gehirns zurückzugreifen und besonders sensibel zu werden. Ihr Atem, sogar
ihr Puls war zu hören, das Summen der Pumpe kam ihr jetzt viel lauter vor. Mit
der Tomate in der Hand kauerte sie sich hin und tastete sich mit ausgestreckten
Armen zur gegenüberliegenden Wand vor. Sie kroch geduckt Richtung Ausgang, um
den überhängenden Pflanzen auszuweichen, und versuchte, sich zu beruhigen. Es
gab hier keine Geister, sagte sie sich, keinen Grund, sich zu gruseln.
Und dann war
plötzlich ein Arm über ihr. Juliette schrie auf und ließ die Tomate fallen. Der
Arm hielt sie fest, hielt sie geduckt, als sie aufstehen wollte. Sie schlug
nach dem Angreifer, versuchte, sich ihm zu entwinden, der Tischdeckenhut wurde
ihr vom Kopf gerissen – bis sie schließlich den harten Stahl des Drehkreuzes
spürte. Sie war unter eine der
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