Silo: Roman (German Edition)
Es
fühlte sich an, als wäre es Wochen her, nicht Tage.
»Hast du sie da
draußen gesehen? Tot?«
Sie nickte.
Er ließ den Kopf
sinken. »Man konnte nicht lange was sehen. Ich habe mich nur ganz am Anfang mal
hochgeschlichen. Da wurde noch heftig gekämpft. Im Laufe der Zeit bin ich dann
öfter und weiter hinaufgegangen. Ich habe mir das Chaos angesehen, das sie
hinterlassen haben. Aber Leichen habe ich jetzt schon seit …«, er dachte
gründlich nach, »… vielleicht zwanzig Jahren keine mehr gefunden.«
»Dann waren hier
noch eine Zeit lang Leute drin?«
Er zeigte zur Decke.
»Manchmal sogar hier in der Halle. Bei den Servern. Da haben sie gekämpft. Sie
haben überall gekämpft. Und es wurde immer schlimmer. Sie haben um Essen
gekämpft, um Frauen gekämpft, um das Kämpfen gekämpft.« Er drehte den
Oberkörper herum und zeigte auf eine andere Tür. »Diese Räume hier sind wie ein
Silo im Silo. So angelegt, dass man zehn Jahre überleben kann. Aber wenn man
solo ist, reicht es auch länger.«
»Wie meinst du das?
Ein Silo im Silo?«
»Entschuldigung,
mein Gesprächspartner ist ja sonst jemand, der schon alles weiß.« Er zwinkerte
ihr zu, und Juliette verstand, dass er sich selbst meinte. »Du weißt ja gar
nicht, was ein Silo ist.«
»Natürlich weiß ich
das«, sagte sie. »Ich bin in einem Silo wie diesem hier geboren und
aufgewachsen. Nur dass wir wohl noch die guten Tage haben.«
Solo lächelte. »Was
ist denn ein Silo?«, fragte er mit pubertärem Spott in der Stimme.
»Das ist …« Juliette
rang nach Worten. »Unser Zuhause. Ein Gebäude wie die hinter den Hügeln, nur
unter der Erde. Ein Silo ist der Teil der Welt, den man bewohnen kann. Das Innere «,
sagte sie und fand die Definition überraschend schwierig.
Solo lachte.
»Das bedeutet es für dich . Aber wir benutzen die ganze Zeit Wörter, ohne sie wirklich zu
verstehen.« Er zeigte auf das Regal mit den Metallbehältern. »Da ist das ganze
echte Wissen drin. Alles, was je passiert ist.« Er sah sie an. »Kennst du den
Ausdruck ›wie ein wilder Stier‹?«
Sie nickte.
»Natürlich.«
»Aber was ist denn
ein Stier?«, fragte er.
»Jemand, der wütend
ist. Oder der einen dicken Hals hat.«
Solo lachte. »Es
gibt so viel, was wir nicht wissen. Ein Silo ist nicht die Welt. Das Wort
stammt aus einer lang vergangenen Zeit, als draußen noch Getreide gewachsen
ist, so weit das Auge reicht …« Er machte eine weiträumige Geste über den
Boden. »… als es noch so viele Menschen gab, dass man sie nicht hätte zählen
können, und als jedes Paar mehrere Kinder hatte.« Er knetete seine Hände, als
wäre es ihm peinlich, mit einer Frau über Kinder zu sprechen.
»Sie haben so viel
Essen angebaut«, fuhr er fort, »dass nicht mal all diese Menschen das alles
gebraucht haben, nicht auf einmal. Deswegen haben sie das Essen für schlechte
Zeiten eingelagert. Sie haben mehr Getreide genommen, als man sich vorstellen
kann, und es in diesen riesigen Silos gelagert, die es oberirdisch gab …«
»Oberirdisch«, sagte
Juliette. »Silos.« Sie hatte das Gefühl, er würde sich das alles ausdenken,
eine Phantasie, die sich über die einsamen Jahrzehnte in ihm entwickelt hatte.
»Ich kann dir Bilder
zeigen«, sagte er trotzig, als sei er beleidigt, weil sie ihn so zweifelnd
ansah. Er stand auf und ging zu dem Regal mit den Metallbehältern. Er las die
kleinen Etiketten am unteren Ende und ließ die Finger darübergleiten.
»Ah!« Er zog eine
der Schatullen heraus – sie sah schwer aus – und brachte sie ihr. Mit einem
Schnappverschluss an einer Seite ließ sich der Deckel öffnen, und darin lag
etwas Dickes.
»Ich mach das
schon«, sagte er, obwohl sie ihm gar nicht hatte helfen wollen. Er neigte die
Box zur Seite und ließ das schwere Ding mit einer offensichtlich geübten
Bewegung in seine Hand gleiten. Es war so groß wie ein Kinderbuch, aber zehn-
oder zwanzigmal so dick. Trotzdem war es ein Buch. Sie sah den wundersam
perfekten Schnitt des feinen Papiers.
»Ich such das mal«,
sagte er. Er blätterte dicke Seitenstapel auf einmal um, blätterte dann feiner,
nur noch wenige Seiten auf einmal.
»Hier.« Er zeigte
auf etwas.
Juliette rückte
heran und guckte. Es war wie eine Zeichnung, aber so genau, dass es fast echt
aussah. Wie der Blick auf den Monitor in der Kantine oder das Bild von einem
Gesicht in einem Ausweis, nur in Farbe. Sie überlegte, ob dieses Buch mit
Batterien betrieben wurde.
»Es sieht so echt
aus«, flüsterte
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