Silo: Roman (German Edition)
verloren hatte. So oder so, man
lachte.
»Ich dachte, ich
hätte das Messer selbst in die Tür gesteckt. Dann habe ich das Rohr gefunden.
Ich habe überlegt, ob das eine riesengroße Ratte gewesen sein kann.«
Juliette lächelte.
»Ich bin keine Ratte«, sagte sie. »Wie viele Jahre ist das hier schon so?«
»Vierunddreißig«,
sagte er wie aus der Pistole geschossen.
»Vierunddreißig Jahre ?
So lange bist du schon allein ?«
Er nickte, und unter
ihr schien sich der Boden aufzutun. Ihr schwirrte der Kopf bei der Vorstellung,
so lange keinen Menschen zu sehen.
»Wie alt bist du
denn?«, fragte sie. Er kam ihr nicht viel älter vor als sie selbst.
»Fünfzig«, sagte er.
»Nächsten Monat, ziemlich sicher.« Er lächelte. »Macht Spaß zu reden.« Er
zeigte im Zimmer herum. »Manchmal rede ich mit den Sachen. Und ich pfeife.« Er
sah sie direkt an. »Ich kann gut pfeifen.«
Juliette stellte
fest, dass sie wahrscheinlich gerade erst geboren worden war, als sich das
Unglück in diesem Silo ereignet hatte. »Aber wie hast du denn all die Jahre
überlebt?«, fragte sie.
»Keine Ahnung. Ich
hatte nie vor, so viele Jahre am Leben zu bleiben. Ich habe mich immer nur um
die nächsten paar Stunden gekümmert. Und die gehen immer so vorbei. Ich esse.
Ich schlafe. Und ich …« Er sah weg, ging zu einem Regal und sortierte ein paar
Dosen, von denen viele leer waren. Er fand eine mit offenem Deckel, ohne Etikett,
und hielt sie ihr hin. »Bohnen?«
Sie wollte schon
ablehnen, sah dann aber seinen eifrigen Gesichtsausdruck. »Gern«, sagte sie und
merkte, wie hungrig sie war. Sie hatte immer noch den Geschmack des faulen
Wassers im Mund, die beißende Magensäure, die unreife Tomate. Er trat näher,
und sie griff in den nassen Saft in der Dose und holte eine rohe grüne Bohne
heraus. Sie steckte sie sich in den Mund und kaute.
»Und ich gehe aufs
Klo«, sagte er verschämt, während sie schluckte. »Das ist nicht schön.« Er schüttelte
den Kopf und fischte nach einer Bohne. »Ich bin ja allein, also gehe ich in die
Badezimmer der Wohnungen, bis ich den Gestank nicht mehr aushalte.«
»In die Wohnungen ?«,
fragte Juliette.
Solo suchte nach
einem Platz, wo er die Bohnen abstellen konnte. Schließlich fand er einen auf
dem Boden, in einem weiteren Häufchen Müll und Junggesellenunrat.
»Es gibt keine
Spülung. Kein Wasser. Ich bin ganz allein.« Er wirkte betreten.
»Seit du sechzehn
bist«, sagte Juliette, die inzwischen nachgerechnet hatte. »Was ist denn vor
vierunddreißig Jahren hier passiert?«
Er hob die Arme.
»Was immer passiert. Die Leute werden verrückt.« Er lächelte. »Wir haben nichts
davon, wenn wir zurechnungsfähig bleiben, nicht wahr? Ich reiße mich zusammen
und reiße mich zusammen und schaffe es noch einen Tag, noch ein Jahr, aber
deshalb wird die Situation im Silo auch nicht besser. Es ist nichts Besonderes,
dass ich normal geblieben bin. Dass ich nicht verrückt bin.« Er runzelte die
Stirn. »Und dann hat man einen schlechten Tag und macht sich Sorgen um sich
selbst, verstehst du? Es braucht nur einen schlechten Tag.«
Er setzte sich im
Schneidersitz auf den Boden. »Unser Silo hatte einen schlechten Tag. Mehr hat
es nicht gebraucht. Setz dich doch.«
Er deutete auf den
Boden. Wieder konnte sie nicht ablehnen. Sie setzte sich, ein Stück entfernt
von seinem stinkenden Bett, und lehnte sich an die Wand.
»Wie hast du denn
überlebt? Den schlechten Tag, meine ich. Und seitdem.«
»Ich hatte die ganze
Zeit Angst«, sagte er. »Mein Vater war der Schatten vom IT-Chef. Dem Chef von dem Ganzen hier.« Er nickte. »Mein
Vater war ein großer Schatten. Er kannte die Räume hier, und die haben
überhaupt nur zwei oder drei Leute gekannt. Als die Kämpfe losgingen, hat er
sie mir gezeigt und mir seine Schlüssel gegeben. Dann ist er irgendwo anders
hin, und plötzlich war ich der Einzige, der von diesem Raum noch wusste.« Er
schaute einen Augenblick auf seinen Schoß, dann sah er wieder auf. Juliette
verstand jetzt, warum er so viel jünger wirkte. Es waren nicht nur die Angst
und die Schüchternheit – es war etwas in seinen Augen. Er war gefangen in dem
fortdauernden Horror seiner Teenagerzeit. Sein Körper alterte um die Schale
eines verängstigten Jugendlichen herum.
»Keiner von denen
hat es geschafft, oder? Von denen, die rausgegangen sind?« Solo suchte in ihrem
Gesicht nach der Antwort.
»Nein«, sagte sie
traurig. Sie erinnerte sich daran, wie sie über die Leichen geklettert war.
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