Silo: Roman (German Edition)
Sätze betonte – wurden wahrgenommen und wuchsen sich zu
folgenreichen Codeübertretungen aus. Als schließlich Steine flogen und bei den Überfällen auf das jeweils andere Lager Blut
floss, konnten die Feldforscher das Experiment nicht länger fortsetzen …
Lukas
konnte nicht mehr weiterlesen. Er schlug das Buch zu und lehnte sich an die
hohen Regale. Er roch etwas Muffiges, hielt sich den Rücken des alten Buches an
die Nase und schnupperte daran. Er musste schließlich einsehen, er war es
selbst, der so stank. Wann hatte er zum letzten Mal geduscht? Sein Tagesablauf
war vollkommen durcheinandergeraten. Morgens weckten ihn keine kreischenden
Kinder mehr, abends jagte er nicht den Sternen nach, und keine Treppe führte
ihn in gedämpftem Licht zurück in sein Bett. Stattdessen wälzte er sich hustend
in der geheimen Schlafkammer der fünfunddreißigsten Etage – es gab ein Dutzend
Kojen hier, aber er war allein. Blinkende rote Lampen signalisierten ihm, dass
er Besuch hatte, er redete mit Bernard und mit Peter Billings, wenn sie ihm das
Essen brachten, er führte lange Gespräche mit Juliette, wenn sie anrief und er
ungestört war und antworten konnte. Dazwischen beschäftigte er sich mit den
Büchern. Bücher über eine aus den Fugen geratene Welt, Geschichten von Gewalt
und Massenwahn, von Sonnen, die von der Erde umkreist wurden und eines Tages ausbrennen
würden, von Waffen, die allem ein Ende setzen könnten.
Wie lange würde er
noch so weitermachen können? Lesen, schlafen, essen. Die Wochen fühlten sich
bereits wie Monate an. Er hatte keinerlei Zeitgefühl mehr, konnte sich nicht
erinnern, wie lange er diesen Overall schon trug. Ob es an der Zeit war, ihn
abzulegen und den anderen Anzug aus dem Wäschetrockner zu holen? Manchmal hatte
er den Eindruck, er würde seine Kleider dreimal am Tag wechseln und waschen,
aber er konnte es nicht wirklich einschätzen, vielleicht tat er es auch nur
zweimal die Woche. Jedenfalls roch sein Overall so, als sei er schon länger
nicht mehr gewaschen worden.
Lukas lehnte seinen
Kopf wieder an die blechernen Buchschuber und schloss die Augen. Was er gelesen
hatte, konnte nicht alles wahr sein. Das war doch Unsinn – so eine überfüllte,
merkwürdige Welt. Ihm wurde schwindlig, wenn er sich das Ausmaß des Ganzen
vorstellte – dass er sein Leben lang unter der Erde begraben gelebt hatte, dass
Menschen zur Reinigung hinausgeschickt worden waren … Er hatte das Gefühl, vor
einem Abgrund zu stehen und ganz weit unten die Umrisse einer dunklen Wahrheit
zu erahnen, sie aber nicht wirklich erkennen zu können. Und dann kam er wieder
zu Sinnen, und die Wirklichkeit zog ihn vom Rand zurück.
Er wusste nicht, wie
lange er so dagesessen und von einer anderen Zeit und einem anderen Ort
geträumt hatte, als die roten Lampen wieder zu pulsieren begannen.
Lukas legte das Buch
in seinen Schuber und rappelte sich auf. Auf dem Monitor sah er Peter Billings
an der Tür des Serverraums stehen, weiter durfte er nicht in das Zimmer hinein.
Das Tablett mit Lukas’ Abendessen stand oben im Eingang auf dem Aktenschrank
mit den Arbeitsberichten.
Lukas wandte sich
vom Computer ab, eilte den Gang hinunter und kletterte die Leiter hinauf. Er
öffnete und schloss die Stahlluke und zwängte sich zwischen den Türmen der
summenden Server hindurch.
»Ach, da ist ja
unser kleiner Schützling!« Peter lächelte, aber seine Augen wurden bei Lukas’
Anblick schmal.
Lukas nickte zum
Gruß. »Sheriff.« Er hatte das Gefühl, dass Peter sich im Stillen über ihn
lustig machte, dass er auf ihn herabsah, auch wenn sie ungefähr gleich alt
waren. Immer wenn Peter mit Bernard vorbeikam, schien es zwischen ihnen eine
Spannung zu geben, eine Art Konkurrenz, vor allem nachdem Bernard damals
erklärt hatte, dass Lukas unbedingt an einem sicheren Ort untergebracht werden
müsste. Lukas spürte diese Spannung bei Peter, nicht aber bei sich selbst.
Bernard hatte Lukas zum Schweigen verpflichtet und ihm unter vier Augen gesagt,
dass er Peter zum möglichen Nachfolger im Amt des Mayors aufbauen wolle und
Lukas eines Tages mit ihm würde zusammenarbeiten müssen. Lukas versuchte, sich
dieses Gespräch wieder in Erinnerung zu rufen, als er das Tablett vom Schrank nahm.
Peter beobachtete ihn mit gerunzelter Stirn.
Lukas wandte sich
zum Gehen.
»Warum setzt du dich
nicht hierhin und isst?«, fragte Peter, ohne sich von der Stelle zu bewegen.
Lukas erstarrte.
»Wenn Bernard kommt,
isst du hier, aber wenn ich
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