Silo: Roman (German Edition)
seinem Bart zum Trichter geformt.
Sie nickte, aber ihr
Helm bewegte sich nicht. Sie spürte, wie die Gewichte an ihren Schienbeinen
zogen und versuchten, sie in die Tiefe zu zerren. Es gab so einiges, was sie
Solo gern gesagt hätte – Dinge, die sie ihm gern in Erinnerung gerufen, Tipps,
die sie ihm gegeben, Glück, das sie ihm gewünscht hätte –, aber ihr schwirrte
zu sehr der Kopf, um an das Funkgerät zu denken. Stattdessen lockerte sie ihren
Griff um das Tau, es schwappte wie eine Alge an ihren Overall, und sie begann
ihren langen Abstieg.
63. KAPITEL
Silo
18
Lukas
saß an einem Schreibtisch, der aus sündhaft teurem Holz hergestellt war, und
starrte ein Buch an, das aus einem ganzen Vermögen an raschelnden Seiten
bestand. Der Stuhl unter ihm war vermutlich mehr wert, als er in seinem ganzen
Leben verdienen würde. Wenn er sich bewegte, verdrehten sich die Zapfverbindungen
dieses zierlichen Möbels knackend, als wollte es jeden Moment
auseinanderfallen.
Er hatte seine
Stiefel fest links und rechts auf den Boden gestellt, damit seine Füße
vorsichtshalber einen Teil seines Gewichts übernehmen konnten.
Lukas blätterte um
und tat so, als würde er lesen. Nicht, dass er prinzipiell nicht mehr hätte
lesen wollen – er wollte nur in diesem Text nicht lesen. Ganze Reihen
interessanter Bücher standen hinter ihm im Regal und schienen ihn aus ihren
Blechschubern heraus zu verhöhnen. Sie schrien danach, gelesen zu werden,
schrien, er solle die Weisung weglegen, diese langweilige Liste von Geboten,
die sich mit ihren Querverweisen und Anmerkungen länger hinzog als die
Haupttreppe selbst.
Lukas überflog ein
paar Seiten und fragte sich, ob Bernard ihn wohl überwachte. Der IT-Chef saß auf der anderen Seite des kleinen
Studierzimmers, einem der vielen Räume in dem gut ausgestatteten Versteck unter
dem Serverraum. Während Lukas so tat, als würde er für seinen neuen Posten
lernen, tippte Bernard abwechselnd in seinen kleinen Computer, oder er ging zum
Funkgerät an der Wand und gab den Sicherheitskräften unten im Silo Anweisungen.
Lukas nahm einen
Batzen Seiten zwischen zwei Finger und blätterte vor. Er überging sämtliche
Statuten zur Vermeidung von Katastrophen und suchte weiter hinten nach den
theoretischen Verordnungen. Dieses Material war allerdings noch erschreckender – Kapitel über Manipulation und Gehirnwäsche, über die Auswirkungen von Angst
während der Sozialisation, Schaubilder und Tabellen zum Bevölkerungswachstum …
Lukas konnte es
nicht fassen. Er rückte seinen Stuhl zurecht und sah eine Weile lang zu, wie
Bernard, Leiter der IT-Abteilung und
kommissarischer Mayor, vor seinem Bildschirm saß und beim Lesen mit dem Kopf
hin und her wackelte.
Dann wagte er es, in
die Stille hineinzufragen: »Bernard?«
»Hm?«
»Warum gibt es hier
keine Informationen darüber, wie das alles so gekommen ist?«
Bernards Bürostuhl
knarrte, als er sich zu Lukas umdrehte. »Was meinst du?«
»Warum steht im Buch
der Weisung nichts über die Menschen, die diese Bücher geschrieben haben?
Darüber, wie und warum sie den Silo gebaut haben.«
»Warum sollte etwas
darüber in der Weisung stehen?«
»Damit wir Bescheid
wissen. Alles andere ist schließlich auch aufgeschrieben worden.«
»Ich will nicht,
dass du im Vermächtnis liest. Noch nicht.« Bernard deutete auf den
Holzschreibtisch. »Beschäftige dich erst mit der Weisung. Wenn du den Silo
nicht zusammenhalten kannst, ist das Vermächtnis nicht das Papier wert, auf dem
es gedruckt ist. Dann gibt es nämlich niemanden mehr, der noch darin lesen
könnte.«
»Außer uns beiden
kann die Bücher doch sowieso keiner lesen, solange sie hier unten
eingeschlossen sind …«
»Heute noch nicht.
Aber eines Tages wird es eine Menge Leute geben, die sie lesen. Aber nur, wenn
du fleißig lernst.« Bernard deutete mit dem Kinn auf den dicken, Furcht
einflößenden Band der Weisung, dann drehte er sich wieder zu seiner Tastatur um
und bewegte die Maus.
Lukas saß da und
starrte auf Bernards Rücken.
»Vermutlich werden
sie gewusst haben, was kommt.« Lukas konnte einfach nicht lockerlassen. Er
hatte schon früh über diesen Punkt nachgedacht, ihn dann aber verdrängt und
seinen Nervenkitzel darin gefunden, die Sternenkarte anzulegen. Die Sterne
waren so weit weg, dass die Tabus im Bezug auf die Außenwelt für sie nicht
galten. Aber nun lebte er in diesem Vakuum, in dieser Höhle im Silo, von der
niemand wusste und in der über jedes verbotene
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