Silo: Roman (German Edition)
es wäre nur eine halbherzige Lösung gewesen, die Überflutung mit den
kleinen Pumpen allmählich zu den Wasseraufbereitungsanlagen umzuleiten. Es gab
keinen anderen Weg, sie musste die großen Pumpen aktivieren und das Wasser
durch die Betonwände ins Erdreich zurückdrücken.
Juliette trat an die
Kante des Treppenabsatzes und sah hinunter auf die schillernde Oberfläche des
brackigen Wassers. War ihr Plan schlicht irrsinnig? Hätte sie nicht größere
Angst haben müssen? Oder war wirklich die Vorstellung noch schlimmer, das
Wasser über Jahre hinweg abzupumpen, dafür aber eine ungefährliche Methode zu
wählen? Für Juliette war die Aussicht, langsam verrückt zu werden, das größere
Risiko hier im Silo. Was sie jetzt vorhatte, war auch nicht gefährlicher, als
nach draußen zu gehen, sagte sie sich. Und das hatte sie schließlich auch
überlebt. Und diesmal hatte sie sogar so viel Luft, wie sie nur wollte, und es
gab keine giftigen Gase dort unten, die irgendwann durch ihren Overall dringen
würden.
Sie blickte in ihr
Spiegelbild im stehenden Wasser, sie sah riesig aus in dem unförmigen Anzug.
Wenn Lukas hier wäre und sehen könnte, was sie vorhatte – würde er versuchen,
es ihr auszureden? Wahrscheinlich schon, dachte sie. Wie gut kannten sie
einander denn wirklich? Wie oft hatten sie sich persönlich getroffen – zwei-,
dreimal?
Sie hatten
inzwischen Dutzende Male miteinander telefoniert. War es möglich, dass sie ihn
allein über seine Stimme kennengelernt hatte? Über die Geschichten, die er aus
seiner Kindheit erzählte? Über sein Lachen – mit dem er sie ansteckte, obwohl
sie sonst bei allem, was sie tagsüber tat, einfach nur hätte heulen können? War
das der Grund, aus dem im Silo die E-Mails und Telegramme so teuer gewesen
waren? Um diese Art von Beziehung zu verhindern? Wie war es überhaupt möglich,
dass sie hier stand und diesen halb fremden Mann im Kopf hatte, anstatt über
die wahnwitzige Aufgabe nachzudenken, die vor ihr lag?
Vielleicht war Lukas
ihr Rettungsanker geworden, ein dünner Faden der Hoffnung, der sie mit ihrer
Heimat verband. Und möglicherweise war er sogar ein kleiner Lichtpunkt, den sie
hin und wieder in der Düsternis sah, ein Signalfeuer, das ihr irgendwann den
Weg nach Hause leuchten würde.
»Helm?« Solo stand
neben ihr, beobachtete sie und hielt die helle Plastikkugel in der Hand, an der
sie oben eine Stirnlampe angebracht hatte.
Juliette nahm den
Helm. Sie vergewisserte sich, dass die Leuchte auch festsaß, sie versuchte,
ihren Kopf von den sinnlosen Grübeleien freizubekommen.
»Schließ erst die
Luft an«, sagte sie. »Und schalte das Funkgerät ein.«
Er nickte. Sie hielt
den Helm, während er den Atemschlauch in den Adapter schraubte, den sie durch
den Kragen gebohrt hatte. Solos Hand strich über Juliettes Nacken, als er ihr
das Kabel des Funkgeräts umlegte. Juliette senkte das Kinn und drückte den
selbst gebastelten Schalter, den sie in ihre Unterwäsche eingenäht hatte.
»Hallo, hallo«, sagte sie. Aus Solos Gerät am Hosenbund kam zusammen mit ihrer Stimme
ein grässliches Quaken.
»Bisschen laut«,
sagte er und stellte es leiser.
Sie setzte den Helm
auf. Den Visiermonitor und das Plastikinnenfutter hatte sie entfernt, außerdem
die Farbe außen abgekratzt, wodurch eine fast ganz durchsichtige Halbkugel aus Hartplastik
entstanden war. Sie verhakte den Helm am Kragen. Es war gut zu wissen, dass
diesmal alles, was sie sah, wirklich auch vorhanden war.
»Alles okay bei
dir?«
Solos Stimme klang
gedämpft durch den luftdichten Verschluss zwischen Helm und Anzug. Sie hob ihre
behandschuhte Hand und reckte den Daumen. Dann deutete sie auf den Kompressor.
Er nickte, kniete
sich neben das Gerät und kratzte sich am Bart. Sie sah zu, wie er den tragbaren
Generator anschloss, fünfmal die Zündung drückte und am Seilzugstarter zog. Der
kleine Apparat spuckte Rauch aus und startete surrend. Trotz der Gummireifen
holperte und rumpelte er so sehr auf dem Treppenabsatz, dass Juliette die
Vibrationen durch ihre Stiefel hindurch spüren konnte. Trotz des Helms hörte
sie das Getöse und konnte sich vorstellen, wie das laute Röhren durch den
verlassenen Silo hallte.
Solo hielt den
Kaltstarter noch eine Weile fest, wie Juliette es ihm gezeigt hatte, dann
drückte er ihn ganz hinein. Während der Kompressor nun gleichmäßig vor sich
hinlief, sah Silo sie an und lächelte durch seinen Bart. Er sah aus wie einer
der Hunde in der Versorgungsabteilung, die
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