Silo: Roman (German Edition)
umherruderten, war ihr, als würde sie im Inneren einer
Luftblase stehen und langsam voranrollen. Einmal blieb sie stehen, prüfte, ob
ihr Luftschlauch nicht an der Treppe hängen blieb, und warf einen letzten Blick
auf das Seil, das sie nach unten geführt hatte. Aus der Entfernung wirkte es
wie ein dünner Faden, der in dem überfluteten Strohhalm des Treppenhauses hing.
Er trieb leicht in dem Sog, den sie verursachte, fast als würde der Faden zum
Abschied winken.
Juliette versuchte,
nicht länger an das Seil zu denken, und drehte sich wieder zum Eingang des
Maschinenraums um. Du musst nicht noch weitergehen!, sagte sie sich. Wenn sie
zwei oder drei kleinere Pumpen aus den Hydrokulturgärten installieren würde,
wäre das Wasser zwar erst in einigen Jahre zurückgegangen, aber irgendwann
wären die unteren Stockwerke trotzdem trocken, und dann könnte sie diese
vergrabenen Bohrer begutachten, von denen Solo ihr erzählt hatte. Das Ganze
wäre nur mit einem minimalen Risiko verbunden, ganz im Gegenteil zu diesem
wahnsinnigen Tauchgang.
Wenn ihr einziges
Motiv, der einzige Grund für ihre Rückkehr nach Hause Rache gewesen wäre, dann
hätte sie vielleicht beschlossen, zu warten und den sicheren Weg zu gehen. Sie
konnte selbst jetzt die Versuchung spüren, sich die Gewichte von den Stiefeln zu
reißen und durchs Treppenhaus hinaufzuschweben, an den vier Stockwerken vorbei,
so wie sie es sich immer erträumt hatte, mit ausgestreckten Armen, allein, frei …
Doch Lukas hatte sie
auf dem Laufenden gehalten über das Chaos, in dem sich ihre Freunde befanden,
ein Chaos, das sie mit ihrem Weggang selbst verursacht hatte. An der Wand unter
dem Serverraum war ein Funkgerät angebracht, durch das Tag und Nacht die
Geräusche des Kampfes klangen. In Solos unterirdischer Wohnung hing noch einmal
das gleiche Gerät, beide waren aber nur dazu gedacht, mit den tragbaren
Funkgeräten innerhalb dieses Silos zu kommunizieren. Juliette hatte es
aufgegeben, daran herumzubasteln.
Zum Teil war sie
froh, sich die Kämpfe nicht ständig anhören zu müssen – sie wollte einfach nur
zurück und all dem ein Ende setzen. Es war zu einer verzweifelten Idee
geworden, die sie nicht mehr aus dem Kopf bekam: zu ihrem Silo zurückzukehren.
Es machte sie wahnsinnig zu wissen, dass sie nur einen kurzen Spaziergang vom
Eingang zu ihrem alten Silo entfernt war, dass dessen Türen sich aber nur
öffneten, um jemanden in den Tod hinauszulassen. Und was für einen Nutzen würde
ihre Rückkehr überhaupt haben? Würden ihr Auftauchen und die Tatsache, dass sie
die Reinigung überlebt hatte, schon ausreichen, um Bernard und die ganze IT auffliegen zu lassen?
Sie hatte noch
andere, weniger vernünftige Pläne. Es war vielleicht nur eine Phantasie, aber
Juliette klammerte sich daran. Sie träumte davon, einen dieser großen Bohrer zu
reparieren, mit denen man die Silos in die Erde getrieben hatte, eine der
Maschinen, die unterhalb der Mechanik verborgen und vergraben waren. Und damit
würde sie durch die Erde zum unteren Bereich von Silo 18 fahren. Sie wollte die
Blockade brechen, wollte ihre Leute abholen und zurück in die getrockneten
Flure von Silo 17 führen, und dann sämtliche Stockwerke wieder in Gang setzen.
Sie träumte davon, einen neuen Silo ohne alle Lügen und Enttäuschungen zu
gründen.
Mit diesen Träumen
im Kopf watete Juliette durch das Wasser zur Sicherheitsschranke und merkte,
dass der Gedanke an ihre Freunde im anderen Silo sie in ihrer Entschlossenheit
gestärkt hatte. Sie ging zum Drehkreuz, und diese leblose, unbewachte Barriere
stellte das erste wirkliche Hindernis auf ihrem Weg nach unten dar. Es würde nicht
leicht werden, sie zu überwinden. Sie drehte dem Automaten den Rücken zu und
legte die Hände auf beide Seiten, sie drückte und wand sich, stemmte ihre
Fersen gegen die niedrige Mauer, bis sie fast auf der Kontrolleinheit saß.
Ihre Beine waren zu
schwer, um sie zu heben, sie brachte sie nicht hoch genug hinauf, um sich über
das Drehkreuz zu schwingen. Sie drückte sich zurück, bis ihr Hintern sicherer
saß, und versuchte, sich zur Seite zu drehen. Sie fasste mit dem dicken
Handschuh in ihre Kniekehle, spannte sich an und lehnte sich zurück, bis ihr
Fuß auf der Kante der Wand lag. Keuchend ruhte sie sich aus, ihr Helm füllte
sich mit ersticktem Lachen. Es war lächerlich – diese unbeschreibliche Mühe,
nur um über das kleine Mäuerchen zu steigen! Da der eine Stiefel nun bereits
oben lag, ließ sich der
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