Silo: Roman (German Edition)
tiefen Erde herauswuchs und sich nach oben
schraubte. Selbst das Tau, das durch ihre Handschuhe und über ihren wattierten
Bauch glitt, fühlte sich an wie etwas, an dem von oben gezogen wurde, nicht wie
ein Seil, an dem sie abstieg.
Erst als sie das
Kreuz durchdrückte und direkt hinaufblickte, erinnerte Juliette sich an das viele
Wasser über ihr. Der grüne Schein der Notlampen verglomm innerhalb von ein,
zwei Treppenwindungen zu einem unheimlichen Schwarz, das auch das Licht ihrer
Stirnlampe kaum durchdringen konnte. Juliette atmete scharf ein und rief sich
nochmals ins Gedächtnis, dass ihr alle Luft des Silos zur Verfügung stand. Sie
versuchte, den Gedanken daran zu vertreiben, wie viel Wasser ihr auf den
Schultern stand, das Gefühl, lebendig begraben zu sein. Wenn es sein müsste,
wenn sie Panik bekäme, würde sie nur die Gewichte von ihren Stiefeln schneiden
müssen. Ein Schnitt mit dem Kochmesser, und sie würde an die Oberfläche
hinauftreiben. Das sagte sie sich, während sie weiter abstieg. Mit einer Hand
ließ sie das Tau los und tastete nach dem Messer, nur um sich zu vergewissern,
dass es noch da war.
Langsamer! , bellte ihr Funkgerät.
Juliette packte das
Tau mit beiden Händen und hielt sich fest, bis sie still im Wasser schwebte.
Sie rief sich ins Gedächtnis, dass Solo dort oben war, den Luftschlauch und die
Kabel im Blick, die sich von den ordentlichen Rollen abwickelten. Sie stellte
sich vor, wie er sich in den Leitungen verhedderte und auf einem Bein
umhersprang. Blasen strömten aus dem Überdruckventil und stiegen durch das
lindgrüne Wasser hinauf an die Oberfläche. Sie legte den Kopf in den Nacken und
sah zu, wie sie um das gespannte Seil wirbelten, und fragte sich, wieso Solo so
lange brauchte.
Okay! Der Funkhörer in ihrem Nacken knisterte. Alles okay hier!
Solos Stimme war so
laut, dass Juliette zusammenfuhr. Sie wünschte sich, sie hätte die Lautstärke
überprüft, bevor sie ihren Helm geschlossen hatte. Sie würde nun nichts mehr
daran verstellen können.
Die Stille und
Erhabenheit des Abstiegs war gebrochen, mit rauschenden Ohren sank sie in
gleichmäßig langsamem Tempo ein weiteres Stockwerk hinab und gab acht, dass der
Atemschlauch und das Kabel nicht zu sehr unter Spannung gerieten. Nahe dem
Treppenabsatz vom Hundertneununddreißigsten sah sie, dass eine Tür ganz fehlte
und eine andere mit Gewalt aus den Angeln gehoben worden war. Das gesamte
Stockwerk war überflutet worden, was bedeutete, dass die Pumpen noch mehr
Wasser zu bewältigen haben würden.
Kurz bevor der
Treppenabsatz wieder außer Sicht geriet, sah sie dunkle Gestalten auf dem
Korridor, Schatten, die durchs Wasser trieben. Ihre Stirnlampe beschien kurz
ein aufgedunsenes Gesicht, dann schwamm Juliette vorbei und ließ die längst
Verstorbenen hinter sich.
Sie hatte nicht
damit gerechnet, dass sie auf noch mehr Leichen treffen würde. Natürlich keine
Ertrunkenen – das Wasser war vermutlich so langsam gestiegen, dass niemand
überrascht worden war. Aber jede Gewalttat, die im unteren Bereich des Silos
stattgefunden hatte, war offensichtlich von dem eisigen Wasser konserviert
worden. Die Kälte schien langsam auch die Schichten ihres Overalls zu
durchdringen. Oder vielleicht bildete sie sich das auch nur ein.
Ihre Füße in den
Stiefeln landeten auf der Treppe der untersten Etage, während sie noch immer
nach oben blickte und die Leitungen im Auge behielt. Ihre Knie knickten ein
unter dem Gewicht des plötzlichen Aufpralls. Sie hatte weitaus weniger Zeit für
ihren Sinkflug gebraucht als für einen Gang durchs trockene Treppenhaus.
Sie hielt sich mit
einer Hand an der Führungsleine fest und strich mit der anderen durch das trübe
Grundwasser. Mit dem Kinn aktivierte sie den Funkknopf und teilte Solo mit: Bin
unten.
Dann machte sie ein
paar schleppende, zögerliche Schritte, ruderte mit den Armen und schwamm halb
zum Eingang der Mechanik. Das Treppenhauslicht fiel kaum bis an die Sicherheitsschranke,
hinter der sie die ölige Tiefe einer fremden und gleichzeitig vertrauten Heimat
erwartete.
Ich höre dich , antwortete Solo mit einiger
Verzögerung.
Juliettes Muskeln
spannten sich an, als seine Stimme durch den Helm dröhnte. Dass sie die
Lautstärke nicht herunterdrehen konnte, machte sie verrückt.
Nach einem Dutzend
unbeholfener Schritte hatte sie herausgefunden, wie sie ihre beschwerten
Stiefel über den Stahlboden ziehen musste. Mit dem aufgeblasenen Anzug, in dem
ihre Arme und Beine
Weitere Kostenlose Bücher