Silo: Roman (German Edition)
Männer
und Frauen, die dort oben an ihren Schreibtischen arbeiteten, traf sicherlich
keinerlei Schuld. »Walk, wie lange dauert es noch, bis wir mit Jules Kontakt
aufnehmen können?«
»Ist fast so weit.
Diese verfluchte Lupe!«
Courtnee legte
Shirly die Hand auf den Arm. »Alles okay? Wie hältst du dich?«
»Ich?« Shirly lachte
kopfschüttelnd. Sie besah sich die Blutflecken an ihrem Ärmel und spürte, wie
ihr der Schweiß über die Brust lief. »Ich renne im Schockzustand durch die
Gegend. Ich habe keine Ahnung mehr, was los ist. Mir dröhnen die Ohren von der
Explosion draußen auf der Treppe, was immer sie da eigentlich anstellen. Ich
habe mir den Knöchel verstaucht. Und ich bin am Verhungern. Ach, und habe ich
dir schon gesagt, dass meine Freundin gar nicht so tot ist, wie wir gedacht
haben?«
Sie holte tief Luft.
Courtnee sah sie
besorgt an. Shirly wusste, dass sie die eigentliche Frage noch nicht
beantwortet hatte.
»Und Marck fehlt
mir«, sagte sie ruhig.
Courtnee legte ihr
den Arm um die Schulter. »Es tut mir leid, ich wollte nicht …«
Shirly winkte ab.
Die beiden standen reglos da und beobachteten durchs Fenster das kleine Team
der zweiten Schicht, das am Generator arbeitete und versuchte, die giftigen
Auspuffgase der wohnungsgroßen Maschine in die Etagen der oberen Dreißiger zu
leiten.
»Aber weißt du, was?
Manchmal bin ich fast froh, dass er nicht hier ist. Wenn sie uns fassen, dann
muss er sich zumindest nicht mehr darüber aufregen und sich sorgen, was sie mit
uns machen. Was sie mit mir machen. Und ich bin selbst froh, dass ich nicht mit
ansehen muss, wie er kämpft, wie er nur noch rationiertes Essen bekommt, all
diesen Irrsinn.« Sie deutete mit dem Kinn auf das Team in der Halle. Sie
wusste, Marck würde entweder hier sein und diese fürchterliche Aktion anleiten,
oder er wäre draußen, das Gewehr im Anschlag.
»Hallo, hallo, hallo. Test, Test, Test.«
Die beiden Frauen
drehten sich zu Walker um, der den roten Knopf des ehemaligen Sprengsenders
drückte. Er hielt sich das Mikrofon des Headsets an den Mund, seine Stirn lag
vor Konzentration in Falten.
»Juliette? Hörst du
mich? Hallo?«
Shirly ging zu
Walker, hockte sich neben ihn und legte eine Hand auf seine Schulter. Alle drei
starrten auf die Kopfhörer und warteten auf eine Antwort.
Hallo?
Eine leise Stimme
drang aus dem kleinen Ohrenschutz. Shirly hielt den Atem an. Den Bruchteil
einer Sekunde später merkte sie, dass es nicht Juliette war. Es war eine andere
Stimme.
»Das ist sie nicht«,
flüsterte Courtnee entmutigt. Walker hob die Hand, damit sie still wäre. Der
rote Schalter klickte laut, als er auf Sendung ging.
»Hallo. Ich heiße
Walker. Wir haben einen Funkspruch von einem Freund bekommen. Ist sonst noch
jemand da draußen?«
»Frag sie, wo sie
sind!«, flüsterte Courtnee.
»Wo genau seid
ihr?«, fügte Walker hinzu, bevor er den Schalter losließ.
Die Kopfhörer
rauschten.
Wir sind nirgendwo.
Ihr könnt uns nicht finden. Bleibt, wo ihr seid!
Schweigen.
Statisches Rauschen.
Und euer Freund ist
tot. Wir haben ihn getötet .
72. KAPITEL
Silo
17
Das
Wasser im Anzug war eisig, die Luft draußen kalt. Juliettes Zähne schlugen
unkontrolliert aufeinander, während sie das Messer zur Hand nahm. Sie schob die
Klinge in die nasse Außenhaut des Overalls und hatte deutlich das Gefühl, all
das schon einmal getan zu haben, schon einmal an diesem Punkt gewesen zu sein.
Die Handschuhe
schnitt sie zuerst ab, der Anzug war ohnehin nicht mehr zu retten. Juliette
rieb sich die Hände, sie hatte kaum noch ein Gefühl in den Fingern. Dann
schnitt sie durch das Vorderteil, ihr Blick fiel auf Solo, der totenstill
geworden war. Sie sah, dass sein großer Schraubenschlüssel fehlte. Und ihre
Provianttasche war auch weg. Der Kompressor lag auf der Seite, der Schlauch
darunter war geknickt, aus dem losen Einfüllstützen lief Treibstoff.
Juliette war so
kalt, dass sie kaum atmen konnte. Als sie das Vorderteil des Overalls
aufgeschnitten hatte, schob sie Knie und Füße durch das Loch, drehte die
Rückseite nach vorn und versuchte, die Klettverschlüsse aufzureißen.
Aber ihre Finger
waren zu taub. Stattdessen fuhr sie mit dem Messer durch die Verschlüsse, damit
sie an den Reißverschluss kam.
Schließlich zog sie
das kleine Gewinde aus dem Kragen und warf den Anzug von sich. Juliette trug
noch zwei Lagen schwarzer Unterwäsche, noch immer war sie tropfnass und
zitterte.
Sie rutschte zu Solo
hinüber und streckte
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