Silo: Roman (German Edition)
die Hand nach seinem Hals aus. Sie konnte keinen Puls
spüren, wusste aber nicht, ob das etwas zu bedeuten hatte. Mit ihren erfrorenen
Fingern konnte sie ja kaum seinen Hals spüren.
Sie versuchte
aufzustehen, sackte fast um und klammerte sich ans Geländer. Sie wankte zum
Kompressor, sie musste sich unbedingt aufwärmen. Das heftige Bedürfnis, sich
schlafen zu legen, überkam sie, wobei sie wusste, dass sie nie wieder aufwachen
würde, wenn sie ihm nachgab.
Der Benzinkanister
war noch voll. Sie versuchte, den Deckel abzudrehen, aber ihre zitternden und
tauben Hände waren nutzlos. Ihr Atem bildete Wölkchen vor ihrem Gesicht, ein
deutlicher Hinweis darauf, dass sie an Körperwärme verlor, die wenige Wärme,
die sie noch gespeichert hatte.
Sie packte das
Messer, nahm es in beide Hände und drückte die Spitze in den Deckel. Der flache
Griff war leichter zu greifen als der Plastikdeckel. Sie drehte das Messer und
bohrte so ein Loch in den Verschluss.
Dann leerte sie den
Kanister über dem Kompressor aus, tränkte die breiten Gummireifen, das Gestell,
den ganzen Motor mit Benzin. Sie wollte das Gerät sowieso nie mehr benutzen,
wollte sich nie wieder darauf verlassen, dass ihr dieses oder ein anderes Ding
Luft spendete. Sie stellte den halb vollen Kanister ab und schob ihn mit dem
Fuß vom Kompressor weg. Benzin tropfte zwischen den Gittern hindurch und
klimperte wie Musik auf dem Wasser darunter, vermehrte den bunt schillernden
giftigen Schlick.
Sie holte mit dem
Messer aus, die Klinge hielt sie nach unten, die stumpfe Seite von sich weg,
und schlug damit auf die Lamellen des Wärmetauschers. Nach jedem Hieb riss sie
den Arm zurück und wartete, dass eine Flamme zu lodern begann. Aber da war
nicht einmal ein Funke. Sie schlug heftiger zu und fühlte sich alles andere als
wohl damit, ihre einzige Waffe derart zu missbrauchen. Solos Reglosigkeit neben
ihr erinnerte sie daran, dass sie es vielleicht noch brauchen würde, sofern sie
diese tödliche Kälte überlebte.
Da – das Messer traf
klirrend. Ein Knall. Wärme stieg an ihrem Arm auf und fuhr ihr über das
Gesicht.
Juliette ließ das
Messer fallen und wedelte erschrocken mit der Hand in der Luft, aber sie
brannte nicht. Der Kompressor brannte, ein Teil des Treppenabsatzes auch.
Als die Flammen
langsam wieder erstarben, nahm sie den Kanister und goss noch etwas Benzin aus.
Sie wurde mit großen orangeroten Feuerbällen belohnt, die zischend in die Luft
züngelten. Die Räder verbrannten krachend. Juliette ließ sich neben das Feuer
fallen, sie spürte die Hitze der tanzenden Flammen, die sich um das Gerät
herumfraßen. Sie begann, sich auszuziehen. Immer wieder sah sie zu Solo hinüber
und schwor sich, seine Leiche nicht hier liegen zu lassen, sondern
zurückzukommen und ihn zu holen.
Allmählich kehrte
wieder etwas Gefühl in ihre Gliedmaßen zurück, erst ganz langsam, dann mit
einem beißenden Kribbeln. Nackt rollte sie sich neben dem schwachen Feuer
zusammen und rieb sich die Hände. Zweimal musste sie neues Benzin nachgießen.
Nur die Gummireifen schmorten gleichmäßig vor sich hin, sodass sie zumindest
keine neuen Funken mehr schlagen musste. Die Hitze wurde in den Stahlboden des
Treppenabsatzes geleitet und wärmte ihre nackte Haut, wo diese das Metall
berührte.
Juliette spähte die
Treppe hinauf – eine neue Angst durchfuhr sie: Jeden Moment konnten dort
Stiefel heruntergetrampelt kommen, und sie wäre gefangen zwischen dem kalten Wasser
und den neuen Angreifern. Wieder nahm sie das Messer in beide Hände und hielt
es vor sich, versuchte mit aller Kraft das Schlottern zu unterdrücken.
Ihr Spiegelbild in
der Messerklinge machte ihr noch mehr Sorgen. Sie war weiß wie ein Geist. Blaue
Lippen, dunkle Augenringe, eingesunkene Augen. Sie musste fast lachen über
ihren Anblick. Sie rutschte näher ans Feuer. Der orangerote Schein tanzte auf
der Klinge, der unverbrannte Treibstoff tropfte in schillernd bunten Spritzern
ins Wasser.
Als das letzte
Benzin verbrannt war und die Flammen langsam erloschen, beschloss Juliette
hinaufzusteigen. Sie schwankte noch immer, aber hier tief unten im Silo, so
weit vom Strom der IT entfernt, war es
einfach zu kalt. Sie betastete die schwarze Unterwäsche, die sie ausgezogen
hatte. Eine Garnitur war zusammengeknüllt und noch immer nass, die andere hatte
sie zumindest flach auf den Boden gelegt. Wenn sie klar gedacht hätte, hätte
sie die Wäsche aufgehängt. Der Anzug war klamm, aber besser, sie zog ihn an
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