Silo: Roman (German Edition)
pflanzten sich fort. Zwei gingen, zwei neue kamen nach. Genau so,
wie die Lotterie gedacht war. Manchmal lief alles nach Plan.
»Ich kann dir sagen,
worauf ich hinauswill«, sagte sie. »Ich möchte den Vater dieses Mädchens
finden, ihm in die Augen sehen und ihn fragen, warum er seine Tochter in den
zwanzig Jahren, die sie nun in der Mechanik ist, kein einziges Mal besucht
hat.«
Sie sah sich nach
Marnes um. Er runzelte die Stirn.
»Und warum sie kein
einziges Mal zu ihm hinaufgegangen ist«, fügte sie hinzu.
* * *
Der
Verkehr wurde schwächer, als sie in die Zehner kamen und die oberen Wohnungen
hinter sich ließen. Mit jeder Stufe bekam Jahns mehr Angst davor, den ganzen
Weg später wieder hinaufsteigen zu müssen. Der Abstieg war der einfache Teil,
sagte sie sich. Es war, als würde eine Stahlfeder sie nach unten drücken. Jahns
fühlte sich an ihre Albträume erinnert, Träume, in denen sie ertrank, was ziemlich
seltsam war, wenn man bedachte, dass sie noch nie so viel Wasser gesehen hatte,
dass sie darin hätte untertauchen können. Aber wie die Träume, in denen sie aus
großer Höhe hinabfiel, waren auch die vom Ertrinken ein Erbe aus einer anderen
Zeit, Bruchstücke, die in ihren Träumen auftauchten und sagten: Eigentlich
sollen wir nicht tief unter der Erde leben.
Und so war der
Abstieg, diese Abwärtsspirale, wie das Ertrinken, das sie nachts verschlang:
unerbittlich und unausweichlich. Wie ein Gewicht, das sie nach unten zog, ganz
gleich, ob sie es noch einmal nach oben schaffen würde oder nicht.
Sie kamen an der
Kleiderabteilung vorbei, dem Land der vielfarbigen Overalls, aus dem auch ihre
Garnknäuel kamen. Der Geruch von Farben und anderen Chemikalien waberte über
den Treppenabsatz. Durch ein Fenster in den abgerundeten Bausteinen sahen sie
einen kleinen Lebensmittelladen am Rande der Kleiderabteilung. Er war von den
Massen leer gekauft worden, die Regale waren leer, weil die erschöpften
Wanderer, die nach der Reinigung hier vorbeikamen, großen Hunger und Durst
hatten. Mehrere Träger kamen mit schweren Lasten die Treppe herauf, sie taten
ihr Bestes, um ihren Bedarf zu decken, und Jahns erkannte eine schreckliche
Wahrheit über die Ereignisse des letztes Tages: Die barbarische Praxis brachte
mehr als nur psychologische Erleichterung, mehr als einen klaren Blick nach
draußen – sie brachte auch die Wirtschaft in Schwung. Plötzlich gab es für die
Silobewohner einen Grund zu reisen. Einen Grund zu handeln. Es wurde getratscht,
Familien und alte Freunde trafen sich zum ersten Mal nach Monaten oder manchmal
Jahren wieder, der ganze Silo schwirrte plötzlich vor Leben. Als würde ein
alter Mann sich strecken und die Gelenke lockern und wieder das Blut in seinen
Adern spüren. Als würde etwas Altersschwaches zu neuem Leben erwachen.
»Mayor!«
Sie drehte sich um
und stellte fest, dass Marnes auf der Wendeltreppe über ihr kaum noch zu sehen
war. Sie ließ ihn aufschließen und beobachtete seine eiligen Füße.
»Nicht so schnell«,
sagte er, »in dem Tempo komme ich nicht mit.«
Jahns entschuldigte
sich. Sie hatte nicht gemerkt, dass sie das Tempo angezogen hatte.
Als sie die zweite
Lage Wohnungen erreichten, unterhalb des sechzehnten Stocks, ging Jahns auf,
dass sie sich bereits in einem Gebiet befanden, das sie seit fast einem Jahr
nicht mehr gesehen hatte. Kinder jagten über die Treppen und wirbelten den
langsamen Aufwärtsstrom durcheinander. Die Grundschule für das obere Drittel
lag direkt über der Säuglingsstation – dem Lärm und den Stimmen nach zu
urteilen, war an diesem Tag schulfrei. Jahns nahm an, dass viele Schüler
sowieso nicht gekommen wären, weil ihre Eltern sie mit nach oben nahmen, und
vermutlich wollten auch einige Lehrer sich den klaren Ausblick nicht entgehen
lassen. Sie kamen am Treppenabsatz zur Schule vorbei, wo Kreidebilder und
Hüpfekästchen auf den Boden gemalt und von dem ganzen Verkehr verschmiert
worden waren. Die Kinder klammerten sich am Geländer fest, dürre Knie guckten
zwischen den Streben hervor, Beine baumelten von den Treppenabsätzen, und das
Geschrei und Gekreisch wurde in Anwesenheit der vielen Erwachsenen zu einem
geheimen Flüstern gesenkt.
»Gut, dass wir
gleich da sind, ich brauche mal eine Pause«, sagte Marnes auf dem letzten Stück
Wendeltreppe vor der Säuglingsstation. »Hoffentlich können wir den Typen dann
auch sprechen.«
»Werden wir schon«,
sagte Jahns. »Alice hat ihm heute Morgen von meinem Büro aus gekabelt, dass
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