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Silo: Roman (German Edition)

Silo: Roman (German Edition)

Titel: Silo: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hugh Howey
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sich großartig. Lebendig und wie neugeboren, genau so, wie sie es
sich erhofft hatte. Die Sinnlosigkeit, Angst und Erschöpfung des ersten Tages
waren wie weggeblasen. Es blieb nur die leise Befürchtung, dass diese negativen
Gefühle zurückkehren könnten, dass ihre Hochstimmung verfliegen könnte und sie,
sobald sie stehen blieb und nachzudenken begann, abermals in eine düstere
Verfassung geriet.
    Sie saßen auf dem
Metallgitter des breiten Treppenabsatzes, die Unterarme auf dem Geländer, mit
über dem Abgrund baumelnden Beinen, und teilten sich einen Laib Brot. Im
hundertsten Stock wimmelte es vor Betriebsamkeit. Hier wurden Waren gehandelt
und Wertmarken eingetauscht. Arbeiter und ihre Schatten kamen und gingen,
Familien riefen in der Menge nach einander, Händler priesen ihre Waren an. Die
Türen waren durchgehend geöffnet und ließen den Geruch und die Geräusche auf
den doppelt breiten Treppenabsatz hinaus, wo das Gitter nur so vibrierte.
    Jahns genoss die
Anonymität in der Menge. Sie biss in ihre Hälfte des Laibs, genoss den
Hefegeschmack des frisch gebackenen Brots und fühlte sich wie ein ganz anderer
Mensch. Ein jüngerer Mensch. Marnes schnitt ihr ein Stück Käse und ein Stück
Apfel ab und reichte sie ihr. Dabei berührte seine Hand die ihre.
    »Wir sind unserem
Plan deutlich voraus«, sagte Marnes. Seine Stimme klang nüchtern, seine
Feststellung war lediglich ein freundliches Klopfen auf ihrer beider alten
Schultern. »Womöglich schaffen wir es schon zum Abendessen auf die
Hundertvierzig.«
    »Im Moment habe ich
nicht mal Angst vor dem Aufstieg«, sagte Jahns. Sie kaute zufrieden auf ihrem
Apfel und dem Käse. Unterwegs schmeckte alles besser. Oder in der angenehmen
Gesellschaft. Oder inmitten der Musik des Markts, wo ein Bettler Ukulele
spielte.
    »Warum kommen wir
eigentlich nicht öfter hierher?«, fragte sie.
    Marnes grunzte.
»Weil es hundert Stockwerke sind? Außerdem haben wir oben die Aussicht, den
Aufenthaltsraum und die Kantine. Wie viele von den Leuten hier kommen denn
öfter als alle paar Jahre mal zu uns hoch?«
    Jahns dachte kauend
darüber nach.
    »Mal angenommen,
rein hypothetisch, wir würden immer noch in den oberirdischen Silos wohnen, die
man hinter dem Hügel sieht. Da würde man sich doch bestimmt ein bisschen mehr
bewegen, oder? Man würde doch nicht immer in demselben Silo bleiben? Sondern
vielleicht mal weiter gehen als nur ein paar Hundert Stockwerke rauf und
runter?«
    »Über so was denke
ich nicht nach«, sagte Marnes. Jahns verstand das als Aufforderung, sich selbst
ein bisschen zurückzuhalten. Manchmal war es unmöglich zu wissen, was man über
die Außenwelt sagen durfte und was nicht. Derart intime Gespräche waren etwas
für Eheleute, und vielleicht waren der lange Marsch und der Tag gestern ihr zu
Kopf gestiegen. Oder vielleicht war sie genauso anfällig für die Euphorie nach
der Reinigung wie alle anderen auch: das Gefühl, dass manche Regeln gelockert
werden konnten, dass man der einen oder anderen Versuchung nachgeben konnte.
    »Wollen wir weiter?«,
fragte Jahns, als Marnes sein Brot aufgegessen hatte.
    Er nickte. Sie
standen auf und packten ihre Sachen ein. Eine Frau ging vorbei, drehte sich
dann noch einmal um und starrte sie an, ein Erkennen blitzte in ihrem Gesicht
auf, dann musste sie ihren Kindern nacheilen und war verschwunden.
    Sie war viel zu
lange nicht hier gewesen, dachte Jahns. Sie nahm sich fest vor, dass das nicht
wieder vorkommen würde, aber ein Teil von ihr wusste, dass dies bereits ihre
letzte Reise war.
    * * *
    Die
Stockwerke flogen nur so vorbei. Die unteren Gärten, die großen
landwirtschaftlichen Anlagen in den Hundertdreißigern, die stinkende Kläranlage
darunter. Jahns war in Gedanken immer noch bei dem Gespräch, das sie am
Vorabend mit Marnes geführt hatte, bei der Feststellung, dass sie eigentlich
mehr in ihrem Kopf als in der Realität mit Donald zusammengelebt hatte. Sie
bemerkte nicht, wie der Verkehr sich veränderte und dass jetzt in der Mehrzahl
blaue Denim-Overalls auf der Treppe unterwegs waren, deren Träger mehr
Ersatzteile und Werkzeug dabei hatten als Kleidung, Lebensmittel oder
persönliche Dinge. Als sie an das Tor im Hundertvierzigsten kamen, wurde ihr
schlagartig bewusst, dass sie die oberen Ebenen der Mechanik erreicht hatten.
Am Eingang drängten sich Arbeiter in lockeren blauen Overalls, auf denen uralte
Flecken zu sehen waren. Jahns konnte die Berufe dieser Männer und Frauen an
ihren Werkzeugen

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