Silo: Roman (German Edition)
Bei den letzten fünf
Wahlen hatte sie nicht einmal einen Gegenkandidaten gehabt, aber jetzt, wo es
auf das Finale zuging, merkte sie, dass stärkere und jüngere Läufer zum
Überholen ansetzten. Wie viele Richter hatte sie auf Bernards Vorschlag hin
eingesetzt? Und jetzt auch noch den Sheriff? Wie lange würde es noch dauern,
bis Bernard selbst Bürgermeister wurde? Oder schlimmer: bis er das gesamte Silo
wie ein Marionettenspieler dirigierte?
»Jetzt mal mit der
Ruhe«, schnaufte Marnes.
Jahns merkte, dass
sie zu schnell ging. Sie wurde langsamer.
»Der Arsch hat dich
ja total aus der Fassung gebracht«, stellte er fest.
»Dich etwa nicht?«,
zischte sie zurück.
»Du rennst an den
Gärten vorbei.«
Jahns schaute auf
die Stockwerksnummer und merkte, dass er recht hatte. Hätte sie aufgepasst,
dann wäre ihr zumindest der Geruch aufgefallen. Als die Tür zum Treppenabsatz
aufflog und ein Träger mit einem Sack Obst auf jeder Schulter herauskam, überwältigte
sie der Duft der üppigen, feuchten Vegetation.
Der Träger war zwar
überladen, sah aber trotzdem, dass sie auf den Treppenabsatz wollten, und hielt
ihnen mit dem Fuß die Tür auf.
»Mayor«, sagte er
und nickte ihr und Marnes zu.
Jahns bedankte sich.
Die meisten Träger kamen ihr bekannt vor – sie hatte sie immer mal wieder
gesehen, wenn sie auf ihren Touren ganz oben im Silo vorbeigekommen waren. Aber
die Träger blieben nie lange genug, als dass Jahns einen Namen hätte aufschnappen
und sich merken können, auch wenn sie normalerweise gut in diesen Dingen war.
Als sie und Marnes die Hydrokulturfarm betraten, fragte sie sich, ob die Träger
es eigentlich jeden Abend nach Hause zu ihren Familien schafften. Hatten sie
überhaupt Familien? Oder waren sie wie die Priester? Eigentlich war sie zu alt
und zu neugierig, um diese Dinge nicht zu wissen. Aber vielleicht musste man
einmal einen Tag auf der Treppe verbracht haben, um die Arbeit der Träger
anzuerkennen. Die Träger waren wie die Luft, die sie atmete: immer da, immer zu
Diensten und so unentbehrlich, dass sie für selbstverständlich gehalten wurden.
Erst ihre eigene Erschöpfung infolge des langen Abstiegs hatte sie für diese
Leute sensibilisiert. Wie ein plötzlicher Sauerstoffabfall, der als Schwindelgefühl
ihre Aufmerksamkeit erregte.
»Riech mal, die
Orangen«, sagte Marnes und riss Jahns aus ihren Gedanken. Er schnüffelte, als
sie durch das niedrige Gartentor traten. Ein Mitarbeiter in einem grünen
Overall winkte sie durch. »Die Taschen bitte hierhin, Mayor«, sagte er und
deutete auf eine Wand mit offenen Fächern, in denen hier und da Schultertaschen
und Bündel lagen.
Jahns gehorchte und
legte ihre Tasche in eines der Fächer. Marnes stopfte seine Tasche in dasselbe
Fach und schob ihre dabei nach hinten. Ob er Platz sparen wollte oder sich sein
Beschützerinstinkt sogar auf ihre Tasche bezog, hätte Jahns nicht sagen können,
sie fand die Geste jedenfalls genauso süß wie den Duft der Gärten.
»Wir haben für heute
Abend reserviert«, sagte Jahns dem Arbeiter.
Er nickte. »Die
Zimmer sind eine Treppe tiefer. Ich glaube, Ihres wird gerade noch fertig
gemacht. Sind Sie nur zur Besichtigung hier oder auch zum Essen?«
»Beides.«
Der junge Mann
lächelte. »Bis Sie gegessen haben, sollten die Zimmer so weit sein.«
Die Zimmer, dachte Jahns. Sie bedankte sich
und folgte Marnes in das Gewirr der Gärten.
»Wie lange warst du
schon nicht mehr hier?«, fragte sie.
»Eine ganze Weile.
Vier Jahre vielleicht?«
»Ich erinnere mich.«
Jahns lachte. »Wie konnte ich das vergessen? Der Diebstahl des Jahrhunderts.«
»Sehr witzig«, sagte
Marnes.
Am Ende des Gangs
wanden sich die spiralförmig angelegten Hydrokulturgärten in beide Richtungen.
Der Haupttunnel schlang sich über zwei Stockwerke des Silos, wand sich wie ein
Labyrinth bis an die weit entlegenen Betonwände. Das permanente Tröpfeln aus
den Wasserleitungen war irgendwie beruhigend, ein Geräusch, das sanft von der
niedrigen Decke widerhallte. Der Tunnel war an beiden Seiten offen, sodass man
das üppige Grün der Gemüsepflanzungen sehen konnte. Kleine Bäume wuchsen
zwischen dem Netzwerk aus weißen Plastikrohren. Überall waren mit Bindfäden
Kriech- und Kletterpflanzen festgebunden. Männer und Frauen kümmerten sich in
Begleitung ihrer Schatten um die Pflanzen, allesamt in grünen Overalls. Sie
hatten Säcke umgehängt, in denen sie die Ernte des Tages sammelten, die Messer
in ihren Händen klackerten wie kleine
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