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Silo: Roman (German Edition)

Silo: Roman (German Edition)

Titel: Silo: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hugh Howey
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gewesen. Es war eine heimliche Beziehung gewesen, sie hatten
den Silovertrag ignoriert und ihre Liebe nicht öffentlich gemacht. Juliette
wusste, was es hieß, das Wertvollste im Leben zu verlieren. Sie konnte sich gut
vorstellen, dass sie sich selbst lieber zur Reinigung gemeldet hätte, als hier
im Silo die Wurzeln zu düngen, zumindest wenn ihr ehemaliger Geliebter dort
draußen auf dem Hügel gelegen hätte.
    Sie schlug Holstons
Akte noch einmal auf, als sie zu ihrem Schreibtisch zurückging. Zu seinem
Schreibtisch. Er war der Einzige gewesen, der von ihrer eigenen heimlichen
Liebe gewusst hatte. Als der Fall damals gelöst war, hatte sie Holston gesagt,
dass der Mann, dessen Tod sie aufzuklären geholfen hatte, ihr Liebhaber gewesen
war. Holston hatte in den Tagen zuvor ständig von seiner Frau gesprochen und
vielleicht deshalb hatte sie vor dem damaligen Sheriff etwas zugegeben, das sie
in ernsthafte Schwierigkeiten hätte bringen können – eine Affäre, die
vollkommen gegen die Vorschriften war. Und dieser Mann, dem die Einhaltung der
Gesetze oblag, hatte nur gesagt: »Bedaure.«
    Er hatte sie umarmt – als habe er gewusst, was sie in sich trug, eine heimliche Trauer, die den
Platz ihrer verbotenen Liebe eingenommen hatte.
    Und dafür achtete
sie Holston.
    Nun saß sie an
seinem Schreibtisch, auf seinem Stuhl, gegenüber von seinem ehemaligen
Stellvertreter, der den Kopf in den Händen hielt und reglos auf den
aufgeschlagenen Aktenordner starrte. Juliette wurde mit einem Schlag bewusst,
dass auch zwischen Marnes und dem Inhalt des Ordners eine heimliche Liebe
bestanden haben musste.
    »Es ist fünf Uhr«,
sagte Juliette so ruhig und so freundlich wie möglich.
    Marnes hob den Kopf.
Seine Stirn war rot, nachdem er sie so lange auf seinen Händen abgestützt
hatte. Seine Augen waren blutunterlaufen, in seinem grauen Oberlippenbart
hingen ein paar Tränen. Er wirkte wesentlich älter als vor einer Woche, als er
nach ganz unten gekommen war, um sie anzuwerben. Er drehte sich auf seinem
alten Holzstuhl, die Stuhlbeine knarrten, als wären sie erschrocken über die
plötzliche Bewegung. Er blickte auf die Wanduhr hinter sich und prüfte die
Zeit, die dort in ihrem vergilbten, rissigen Plastikgehäuse eingesperrt war.
Dann nickte er still zum Ticken des Zeigers und stand auf. Er strich über
seinen Overall, nahm den Aktenordner, schloss ihn sanft, steckte ihn unter den
Arm.
    »Bis morgen«, sagte
er leise.
    »Ja, bis morgen«,
sagte Juliette, als er zur Kantine hinausschlurfte.
    Sie blickte ihm
nach, er tat ihr fürchterlich leid. Es war todtraurig, sich vorzustellen, wie
er nun in seine kleine Wohnung ging, sich auf die Einzelkoje setzte und über
der Akte abermals zu weinen begann.
    Als sie allein war,
legte sie Holstons Akte auf den Tisch und zog ihre Tastatur näher an sich
heran. Die Tasten waren schon lange abgenutzt, aber irgendwann vor Kurzem hatte
jemand die Lettern mit schwarzer Farbe sauber nachgezeichnet. Inzwischen
verblassten selbst diese handschriftlichen Zeichen wieder, und bald würde die
Tastatur die nächste Beschriftung brauchen. Juliette würde sich darum kümmern
müssen, sie konnte nicht blind tippen wie alle die Büroleute um sie herum.
    Mühselig schrieb sie
eine Anfrage an die Mechanik. Nachdem sie auch heute wieder nur wenig erledigt
hatte, weil sie abgelenkt gewesen war von dem Rätsel um Holstons Entschluss,
war ihr allmählich klar, dass sie das Amt dieses Mannes überhaupt erst
übernehmen konnte, wenn sie verstanden hatte, warum er seiner Arbeit – und dem
ganzen Silo – den Rücken gekehrt hatte. Die Frage ließ ihr keine Ruhe und hielt
sie von anderen Problemen ab. Anstatt sich also noch länger etwas vorzumachen,
wollte sie die Herausforderung annehmen. Und das bedeutete, dass sie mehr
wissen musste, als in dieser Akte stand.
    Sie war sich nicht
sicher, wie sie an die nötigen Informationen kommen sollte, wie sie überhaupt
Zugang zu den entsprechenden Archiven bekommen könnte, aber sie kannte Leute,
die ihr helfen würden. Das war, was sie an ihrem Leben am meisten vermisste:
Ganz unten hielt man zusammen, jeder hatte spezielle Fähigkeiten und versuchte
sich nützlich in die Gemeinschaft einzubringen. Sie hätte für diese Menschen
einfach alles getan, für jeden von ihnen. Und sie wusste, dass die Männer und
Frauen aus der Mechanik umgekehrt alles für sie tun würden, dass sie sogar für
sie kämpfen würden, und diese heimische Verbundenheit fehlte ihr,

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