Silo: Roman (German Edition)
Wozu? Was hatten sich
Holston – oder auch seine Frau – als vernünftige Menschen dabei gedacht, als
sie unbedingt hinausgehen wollten?
Zwei Ordner hatte
sich Juliette in den vergangenen Tagen immer wieder vorgenommen und darüber die
tagesaktuellen Fälle vernachlässigt. Beide waren mit dem Stempel »Akte
geschlossen« versehen, beide gehörten ins Büro des Mayors, wo sie vor jedem
Zugang hätten geschützt sein sollen. Einer der beiden Aktenorder beinhaltete
das Leben des Mannes, den Juliette geliebt und dessen Tod sie in den unteren
Tiefen aufzuklären geholfen hatte. In der zweiten Akte wurde das Leben des
Mannes dokumentiert, den sie respektiert und dessen Posten sie nun übernommen
hatte. Sie wusste nicht, warum sie so auf diese beiden Ordner fixiert war – zumal sie es selbst kaum ertragen konnte, wie Marnes seinerseits vor sich
hinstarrte und immer wieder die Einzelheiten von Jahns’ Tod durchging,
überzeugt, dass er den Mörder kannte und ihm lediglich die Beweise fehlten, um
ihn dingfest zu machen.
Jemand klopfte an
die Gitterstäbe über Juliettes Kopf. Sie blickte auf, erwartete Marnes, der ihr
sagen würde, dass es Zeit sei, Feierabend zu machen. Stattdessen sah sie einen
fremden Mann auf sich herabblicken.
»Sheriff?«, fragte
er.
Juliette legte die
Ordner beiseite und nahm den Stern von ihrem Knie. Sie stand auf, drehte sich
um und sah einen kleinen Mann mit prallem Bauch und Brille auf der Nasenspitze,
dessen silberner IT-Overall bequem saß,
maßgeschneidert und ganz offensichtlich frisch gebügelt.
»Was kann ich für
Sie tun?«, fragte sie.
Er streckte die Hand
zwischen den Gitterstäben hindurch, Juliette nahm den Stern in die andere Hand
und erwiderte den Gruß.
»Entschuldigung,
dass ich so spät heraufkomme, aber es war eine Menge los – die Trauerfeierlichkeiten,
diese sinnlose Stromsperre, das juristische Gerangel … Ich bin Bernard, Bernard
Holland.«
Juliette wurde
eiskalt. Die Hand des Mannes fühlte sich so schmal an, als würde ein Finger
fehlen. Dennoch war sein Griff fest. Sie wollte ihre Hand zurückziehen, er ließ
jedoch nicht los.
»Als Sheriff kennen
Sie sicherlich den Silovertrag in- und auswendig, daher wissen Sie auch, dass
ich kommissarischer Mayor bin, so lange, bis wir die Wahlen organisiert haben.«
»Das habe ich
gehört«, sagte Juliette kühl. Sie fragte sich, wie dieser Mann an Marnes’
Schreibtisch vorbeigekommen war, ohne Gewalt anwenden zu müssen. Hier stand der
Hauptverdächtige im Fall Jahns – allerdings auf der falschen Seite des Gitters.
Und Juliette wurde sich bewusst, dass dies auch für sie galt.
»Aktenstudium?« Er
lockerte seinen Griff, Juliette zog ihre Hand zurück. Er betrachtete die
Unterlagen auf dem Boden, und für einen Moment schien sein Blick auf der
Feldflasche in der Plastiktüte haften zu bleiben.
»Ich mache mich nur
mit den laufenden Fällen vertraut«, sagte sie. »Hier drinnen ist ein bisschen
mehr Platz zum …, nun ja, zum Denken.«
»Oh ja, ich bin mir
sicher, dass der eine oder andere sich in diesem Raum schon wirklich tief
schürfende Gedanken gemacht hat.« Er lächelte. Juliette fiel auf, dass seine
Schneidezähne schief übereinanderstanden. Er sah aus wie eine dieser verirrten
Mäuse, die sie gelegentlich in der Pumpenhalle gefangen hatte.
»Ja, da ist
vielleicht etwas dran. Ich finde diesen Raum hilfreich, um zur Ruhe zu kommen.
Außerdem«, sie sah Bernard in die Augen, »glaube ich nicht, dass er lange leer
bleiben wird. Und wenn die Zelle erst neu besetzt ist, kann ich meine
Grübeleien ja wieder einstellen.«
»Darauf würde ich
nicht unbedingt bauen.« Bernard ließ seine schiefen Zähne aufblitzen. »Unten
heißt es, die arme Jahns – möge ihre Seele Ruhe finden – habe sich mit ihrer
wahnsinnigen Wanderung völlig verausgabt. Sie war offenbar unterwegs zu Ihnen,
nicht wahr?«
Juliette spürte
einen scharfen Stich an der Handfläche, sie lockerte ihren Griff um den Stern,
ihre Fingerknöchel waren weiß, so sehr hatte sie die Fäuste geballt.
Bernard schob seine
Brille nach oben. »Und jetzt höre ich, dass Sie in einem Verbrechen ermitteln.«
Juliette ließ ihn
nicht aus den Augen. Sie versuchte, sich nicht von der Spiegelung der dunklen
Hügel in seinen Brillengläsern ablenken zu lassen. »Als kommissarischer Mayor sollten Sie vermutlich erfahren, dass wir den Fall tatsächlich als
Mord untersuchen.«
Seine Augen weiteten
sich über einem dünnen Lächeln. »Dann stimmen die Gerüchte
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