Silo: Roman (German Edition)
zusammenhielt, und blätterte die Notizen durch. Sie erkannte
Holstons gestochene Schrift, diesen dynamischen, nach rechts geneigten Duktus,
der sich auf fast allem fand, was in und auf seinem ehemaligen Schreibtisch
lag. Sie las Holstons Notizen über ihre Person und machte sich wieder mit dem
Fall vertraut, der zunächst als offenkundiger Mord behandelt worden war, sich
dann durch eine Reihe merkwürdiger Vorfälle aber in eine andere Richtung
entwickelt hatte. Während sie die Akte durchging, kam der alte Schmerz wieder
hoch. Nur mit Mühe konnte sie sich an das Hochgefühl erinnern, das sie damals
empfunden hatte, als der Fall endgültig gelöst worden war, an die Befriedigung,
weil es plötzlich klare Antworten gab und sich das Loch füllen ließ, das der
Tod ihres Geliebten gerissen hatte. Sie legte die Akte weg, war noch nicht
bereit, sich dem allen noch einmal zu öffnen. Sie nahm einen anderen Ordner und
legte ihn auf den Schoß, und dabei strich sie mit einer Hand über den
Messingstern auf ihrem Knie.
Ein Schatten
flackerte über den Monitor und lenkte sie ab. Juliette blickte auf und sah
einen kleinen Erdrutsch am Fuß des Hügels. Die Schmutzschicht wehte flimmernd
auf die Kameralinsen zu – deren Bedeutung man ihr von jeher eingebläut hatte.
Diese Linsen ermöglichten den Blick auf die Außenwelt, und schon als Kind hatte
Juliette die Aussicht in banger Ehrfurcht als sehenswert würdigen müssen.
Aber sie war sich
dessen nicht mehr so sicher, nun, da sie alt genug war, um selbst zu denken.
Diese Obsession der oberen Etage mit der Reinigung sickerte kaum bis ganz nach
unten durch, wo tatsächliche Putzarbeiten den Silo in Betrieb und seine
Bewohner am Leben hielten. Und selbst dort unten in der Mechanik hatte man
ihren Freunden von Geburt an verboten, von der Außenwelt zu sprechen – was
keine große Kunst war, da sie diese Welt ohnehin nie vor Augen hatten. Aber da
Juliette nun auf dem Weg zur Arbeit täglich an den Monitoren vorbeiging und
hier an ihrem Arbeitsplatz vor diesem seltsamen Panorama saß, verstand sie,
dass sich unausweichlich ein paar Fragen stellten. Ihr war klar, dass man
bestimmte Ideen verdrängen musste, dass die Leute sonst in Panik aus dem Silo
hinaufsteigen und Fragen formulieren würden, die für sie alle das Ende
bedeuteten. Es ließ sich nicht ändern: Die Welt dort draußen war unbewohnbar,
niemand durfte hinaus.
Anstatt weiter vor
sich hinzugrübeln, schlug sie Holstons Akte auf. Der Teil, der sich auf sein
tatsächliches Verbrechen bezog, war kaum eine halbe Seite lang, der Rest des
Blattes war leer, das Papier vergeudet. In nur einem einzigen Abschnitt wurde
umstandslos berichtet, dass er in die Arrestzelle der ersten Etage gegangen sei
und den Wunsch geäußert habe, nach draußen zu gehen. Mehr stand dort nicht.
Wenige Zeilen, die den Untergang eines Mannes besiegelt hatten. Juliette las
sie ein paarmal, bevor sie umblätterte.
Die nächste Seite
war ein Schreiben von Jahns, die darum bat, man möge Holston wegen seiner
Dienste am Silo in Erinnerung behalten und nicht als einen gewöhnlichen
Verbrecher. Juliette las den Brief, geschrieben von der Hand einer Frau, die
ebenfalls erst kürzlich verschieden war. Es war eigenartig, an jemanden zu
denken und dabei zu wissen, dass man die Person nie wiedersehen würde. Dass sie
ihren Vater all die Jahre gemieden hatte, lag zum Teil daran, dass er schlicht
und ergreifend noch immer im Silo lebte. Sie hätte jederzeit ihre Meinung
ändern und doch zu ihm hinaufsteigen können. Aber bei Holston und Jahns war es
anders – sie waren für immer verschwunden. Juliette, die ständig Geräte
repariert hatte, die längst als irreparabel galten, hatte das Gefühl, dass sie
die Toten zurückbringen, ihre verwesten Gestalten auferstehen lassen könnte,
wenn sie sich nur ausreichend konzentrierte und die richtigen Handgriffe
ausführte. Aber sie wusste natürlich, dass dieses Gefühl ein Wunschtraum war.
Sie blätterte
Holstons Akte durch und stellte sich verbotene Fragen, manche zum ersten Mal.
Sie las von Lecks in den Abgasleitungen, von altersschwachen Pumpen, deren
Ausfall die Überschwemmung ganzer Stockwerke zur Folge hätte, sie erkannte
Gefahren, die ihr dort unten in der Tiefe stets belanglos erschienen waren. Was
war das überhaupt für ein Leben in diesen unterirdischen Mauern? Und was befand
sich dort draußen hinter den Hügeln? Warum hatten die Menschen irgendwann
einmal diese riesigen Häuser dort in der Ferne gebaut?
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