Silo: Roman (German Edition)

Privatrechner, die
innerhalb der letzten drei Jahre entstanden waren. Das passte zu der
Zeitspanne, die seit Allisons Tod vergangen war. Besonders auffällig war, wie
oft diese unverständlichen Dateien in Unterverzeichnissen abgelegt waren,
manchmal im zwölften Unterverzeichnis eines Unterverzeichnisses oder noch
tiefer. Als hätte sich jemand große Mühe gegeben, sie zu verstecken, dabei aber
Angst gehabt, sie selbst nicht wiederzufinden – und deshalb mehrere Kopien
abgespeichert.
    Was sich hinter den
verschlüsselten Dateien auch verbergen mochte, Juliette vermutete, dass es
wichtig war. Sie riss Stücke von einem kleinen Brotlaib und tunkte sie in eine
Schale mit Maisaufstrich, während sie den ganzen Wortsalat kopierte und in die
Mechanik hinunterschickte. Vielleicht waren die Kollegen dort unten clever
genug, den Code zu knacken – insbesondere in Walker setzte sie große Hoffnung.
    Kauend ging sie in
den nächsten Stunden der Spur nach, die sich anhand von Holstons letzten Jahren
im Amt rekonstruieren ließ. Es war schwierig, seine Aktivitäten einzugrenzen,
zu entscheiden, was wichtig war und was nicht, aber sie ging die Sache so
logisch an wie einen Zusammenbruch unten in der Maschinenhalle. Denn auch bei
Holston hatte sie es offensichtlich mit einem allmählichen, fast unaufhaltsamen
Zusammenbruch zu tun. Der Verlust seiner Frau hatte sich auf den Sheriff
ausgewirkt wie eine gebrochene Plombe oder eine geplatzte Dichtung. Alles, was
bei ihm außer Kontrolle geraten war, ließ sich fast automatisch bis zu Allisons
Tod zurückverfolgen.
    Zunächst fiel
Juliette auf, dass die History von Holstons Arbeitscomputer lückenlos
vollständig war. Er war ein Nachtmensch gewesen wie sie selbst und hatte nach
Feierabend noch stundenlang zu Hause gearbeitet. Das war eine weitere
Gemeinsamkeit, die Juliette zwischen Holston und sich selbst entdeckt hatte und
die ihr Interesse für den Fall weiter anheizte. Außerdem wurde ihr klar, dass
Holston den Großteil seiner Zeit im Fall seiner Frau ermittelt hatte – so wie
Juliette nun hinter ihm herschnüffelte. Das war das stärkste Band zwischen ihr
und dem ehemaligen Sheriff. Hier saß sie nun und stellte genau wie er
Nachforschungen über den letzten Freiwilligen an, der sich zur Reinigung
gemeldet hatte. Sie versuchte herauszufinden, genau wie Holston es bei seiner
Frau hatte herausfinden wollen, was einen Menschen dazu trieb, in den sicheren
Tod hinauszugehen.
    Und in diesem
Zusammenhang fand Juliette nun die ersten gespenstischen Hinweise. Allison
schien das Geheimnis der alten Server aufgedeckt zu haben. Als Juliette sich
die Mails vornahm, die das Ehepaar einander geschrieben hatte, fiel ihr auf,
wie umfassend die Korrespondenz ausgerechnet zu der Zeit gewesen war, als
Allison an ihrer Abhandlung zur Wiederherstellung gelöschter Daten gearbeitet
hatte. Juliette spürte, dass Allison auf den alten Servern etwas gefunden
hatte. Das Problem war nur: was? Juliette fragte sich, ob sie es überhaupt
erkennen würde, selbst wenn sie es fand.
    Sie spielte mit ein
paar Ideen, sie überlegte sogar, ob Allison lediglich über eine Affäre ihres
Mannes in Wut geraten war und die beiden einander deshalb so viele Mails
geschrieben hatten. Aber ihr Gefühl sagte ihr, dass Holston nicht der Mann für
einen Seitensprung gewesen war. Dann stellte Juliette fest, dass ein Großteil
der Aktivität auf Holstons Computer im Zusammenhang mit diesen unsinnigen
Datenkolonnen stand, und sie suchte irgendeinen triftigen Grund, um sich nicht
weiter mit dem Code beschäftigen zu müssen, ganz einfach weil sie nichts damit
anfangen konnte. Warum hätten Holston und vor allem Allison so viel Zeit mit
diesen Zeichen verbringen sollen? Die History-Logs zeigten, dass die
entsprechenden Dateien jeweils stundenlang offen gewesen waren, als hätte man
in diesem Irrsinn tatsächlich konzentriert lesen können! Für Juliette sahen die
scheinbar willkürlich aneinandergereihten Buchstaben und Zeichen wie eine
unbekannte, längst vergessene Schrift aus.
    Was hatte dazu
geführt, dass Holston und seine Frau zur Reinigung hinausgegangen waren? Im
Silo nahm man gemeinhin an, dass Allison eine Art Lagerkoller erlitten hatte
und Holston vor Trauer verrückt geworden war. Juliette hatte das immer
bezweifelt. Sie glaubte nicht an Zufälle. Wenn sie eine Maschine
auseinandernahm, um sie zu reparieren, und ein paar Tage später tauchte an derselben
oder an einer ähnlichen Maschine erneut ein Problem auf, dann