Silo: Roman (German Edition)
musste sie
normalerweise nur die Schritte der letzten Reparatur noch einmal wiederholen.
Die Lösung des Problems ließ sich immer ein zweites Mal anwenden. Das Rätsel um
Holston und Allison betrachtete sie nun auf dieselbe Art und Weise – sie nahm
an, dass beide aus demselben Grund den Silo verlassen hatten.
Sie konnte sich nur
nicht vorstellen, was konkret die Ursache gewesen sein sollte. Und ein Teil von
ihr hatte Angst, dass sie selbst aus der Bahn geraten würde, sobald sie es doch
herausfand.
Sie rieb sich die
Augen. Als sie sich wieder dem Schreibtisch zuwandte, blieb ihr Blick an
Marnes’ Akte hängen. Obenauf lag der Bericht des Arztes zu seinem Tod. Sie
legte ihn zur Seite und besah sich den Zettel, der darunterlag, den
Abschiedsbrief, den Marnes auf seinem kleinen Nachttisch hinterlassen hatte.
Es hätte mich
treffen sollen.
Ein einziger Satz,
dachte Juliette. Aber andererseits, wen gab es noch im Silo, mit dem er hätte
sprechen können? Sie betrachtete die Worte, konnte aber nur wenig Neues
herauslesen. Das Wasser in seiner Feldflasche war vergiftet worden, nicht in
der von Jahns. Dadurch wurde ihr Tod zu einem Fall von Totschlag – ein neuer
Begriff für Juliette. Marnes hatte ihr erklärt, dass das schlimmste Verbrechen,
das sie juristisch jemandem anzulasten hoffen könnten, der gescheiterte
Mordversuch an ihm war. Wenn sie für die Tat überhaupt einen Schuldigen fanden,
hieß das, dieser würde für das, was er bei Marnes nicht geschafft hatte,
zur Reinigung verurteilt werden – wenn sie den Täter für den Mord an Jahns
anklagten, der im Grunde nur ein Unfall gewesen war, dann würde er lediglich
fünf Jahre auf Bewährung bekommen und einen Dienst für das Gemeinwesen
ableisten müssen. Juliette glaubte, dass dieser verdrehte juristische
Zusammenhang dem armen Marnes mehr zugesetzt hatte als alles andere. Auf
wirkliche Gerechtigkeit, ein Leben für ein Leben, konnte man in der
Rechtsprechung des Silos nicht hoffen. Diese merkwürdigen Gesetze, dazu die Tatsache,
dass er das Gift selbst auf dem Rücken getragen hatte, hatten dem Deputy das
Leben gekostet.
Juliette hielt den
Abschiedsbrief in der Hand und verfluchte sich, weil sie den Selbstmord nicht
hatte kommen sehen. Sie hätte mehr mit ihm sprechen, ihm irgendwie die Hand
reichen sollen. Aber in den ersten Tagen war sie so sehr damit beschäftigt
gewesen, den Kopf über Wasser zu halten, dass sie nicht hatte sehen können, wie
der Mann, der sie nach oben gebracht hatte, vor ihren Augen zerfiel.
Das Blinken ihres
Posteingangs-Icons unterbrach ihren Gedankengang. Sie bewegte die Maus und
verfluchte sich erneut. Der große Datenbrocken, den sie vor ein paar Stunden in
die Mechanik geschickt hatte, war anscheinend nicht durchgegangen und wieder
zurückgekommen. Vielleicht war es zu viel auf einmal gewesen. Dann sah sie,
dass es eine Nachricht von Scottie war, ihrem Freund in der IT-Abteilung, der ihr auch den Memorystick geschickt
hatte.
Komm vorbei , stand da.
24. KAPITEL
Zur IT-Abteilung ging es vierunddreißig Stockwerke hinunter.
Juliette eilte so schnell die Treppen hinab, dass sie sich mit einer Hand am
inneren Geländer festhalten musste, um nicht mit denen zusammenzustoßen, die
ihr treppauf vereinzelt noch entgegenkamen. In der zehnten Etage war ihr
allmählich schwindlig vom Sprint über die Wendeltreppe. Sie fragte sich, wie
Holston und Marnes auf dringende Probleme reagiert hatten. Die beiden anderen
Polizeiwachen in der Mitte und ganz unten im Silo lagen bequem auf halbem Weg
in ihren Zuständigkeitsbereichen, der jeweils achtundvierzig Stockwerke
umfasste. Während sie durch die Zwanziger lief, fiel ihr auf, dass ihr Büro
zumindest dann nicht ideal lag, wenn sie zum anderen Ende ihres Bezirks
hinuntermusste. Stattdessen war es dort oben neben Luftschleuse und Arrestzelle
eingerichtet worden – und verwies damit streng auf die im Silo mögliche
Höchststrafe. Sie verfluchte dieses Bauprinzip, als sie an den langen Aufstieg
dachte, der ihr in dieser Nacht noch bevorstand.
In den oberen
Zwanzigern hätte sie fast einen Mann umgerannt, der nicht darauf achtete, wohin
er trat. Sie umschlang ihn mit einem Arm, packte den Handlauf und bewahrte sie
beide in letzter Sekunde vor einem üblen Sturz. Er entschuldigte sich, während
sie einen Fluch hinunterschlucken musste. Und dann sah sie, dass es Lukas war.
Er hatte sein Brett umgehängt, aus seinem Overall ragten die Spitzen seiner
Kohlestifte.
»Oh, hallo!«, sagte
er.
Er
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