Silo: Roman (German Edition)
Verschlussrad innen drehte sich wie von
Geisterhand bewegt.
Juliette überlegte,
ob sie einfach sitzen bleiben, das Gerede von spiritueller Erweckung und
Pflicht an der Gemeinschaft ignorieren und sich dem Feuer ergeben sollte. Was
würden sie in der Mechanik sagen, wenn sie davon hörten? Einige wären stolz auf
ihre Sturheit, das wusste sie. Andere wären bestürzt, dass sie auf diese Weise
gestorben wäre – verbrannt in einem Höllenfeuer. Ein paar wenige würden denken,
dass sie nicht tapfer genug gewesen wäre, um den ersten Schritt aus der Tür zu
machen, dass sie die Chance verpasst hätte, die Außenwelt zu sehen.
Ihr Anzug knitterte,
als das Argon in den Raum gepumpt wurde. Es bildete sich so viel Druck, dass
die Gifte von draußen eine Zeit lang abgehalten würden. Sie stand auf und
schlurfte, fast gegen ihren Willen, in Richtung der Tür. Als sie sich einen
Spalt öffnete, wurden die Plastikvorhänge gegen die Rohre im Inneren der
Schleuse und gegen die niedrige, von der Wand abstehende Bank gedrückt, und sie
wusste, dass das Ende gekommen war. Die Türen vor ihr wurden einen Spalt breit
auseinandergezogen, der Silo öffnete sich, und durch den Nebel des
kondensierenden Dampfes hindurch warf sie einen ersten Blick nach draußen.
Ein Stiefel, gefolgt
vom anderen, schob sich durch die Öffnung, und Juliette trat hinaus in die
Welt, fest entschlossen, dass sie sich auf ihre ganz eigene Art verabschieden
würde. Sie sah diese Welt zum ersten Mal mit eigenen Augen – wenn auch nur
durch ein kleines Sichtfenster, wie ihr plötzlich aufging, durch eine acht mal
zwei Zoll große Glasscheibe.
30. KAPITEL
Bernard
verfolgte die Reinigung von der Kantine aus. Wie immer sah er allein zu, seine
Männer schleppten hastig ihre Koffer und die Ausrüstung aus seinem Büro und
verschwanden zur Treppe. Bernard schämte sich manchmal für den Aberglauben, für
die Angst, die er selbst seinen eigenen Leuten eingeimpft hatte.
Erst sah er den
runden Helm, dann wankte die im Anzug glänzende Gestalt von Juliette Nichols
über die Erde. Mit steifen, unsicheren Schritten stieg sie die Rampe hinauf.
Bernard sah auf die Wanduhr und nahm seinen Saftbecher. Er lehnte sich zurück
und wartete gespannt, wie Juliette auf das reagieren würde, was es dort draußen
zu sehen gab: eine klare, helle, saubere Welt, die vor lauter Leben geradezu
pulsierte. Gras, das sich im frischen Wind wiegte, eine gleißende Stadt, die
hinter den Hügeln lockte.
In seinem Leben
hatte er fast ein Dutzend Reinigungen gesehen und immer diese erste Pirouette
genossen, mit der die Verurteilten ihre Umgebung wahrnahmen. Er hatte Männer,
die Familien zurückgelassen hatten, vor den Linsen tanzen und winken sehen, als
wollten sie ihre Lieben herauslocken. Sie hatten versucht, all die falschen Wunder,
die auf dem Monitor in ihrem Visier dargestellt wurden, pantomimisch
darzustellen. Er hatte beobachtet, wie Menschen panisch nach den fliegenden
Vögeln geschlagen hatten, weil sie sie für Insekten vor ihrem Gesicht hielten.
Einer war sogar die Rampe wieder heruntergekommen und hatte an die Tür
geklopft, vermutlich weil er etwas hatte mitteilen wollen, bevor er schließlich
doch die Reinigung vornahm. Und was waren diese vielen Reaktionen letztendlich
anderes als ein Hinweis darauf gewesen, dass das System funktionierte? Die
Menschen bekamen ihre Hoffnungen bestätigt, und jeder, ungeachtet seiner
inneren Einstellung, tat genau das, was er geschworen hatte nicht zu tun.
Vielleicht hatte
Mayor Jahns sich deshalb nie dazu durchringen können, die Reinigung mit
anzusehen. Sie hatte keine Ahnung gehabt, was die Verurteilten sahen, was sie
fühlten, worauf sie reagierten. Mit flauem Magen war sie am nächsten Morgen
immer heraufgekommen, hatte den Sonnenaufgang beobachtet und auf ihre Weise
getrauert. Die anderen im Silo hatten ihr stets den nötigen Raum gelassen. Aber
Bernard liebte diese Verwandlung, diese Illusion, die seine Vorgänger und er
zur Perfektion getrieben hatten. Lächelnd nahm er einen Schluck frischen Saft
und sah zu, wie Juliette umherstolperte und zu begreifen begann, was sie da
sah. Auf den Linsen war kaum ein Schmutzfilm, es lohnte nicht einmal, ihn
abzubürsten, aber er wusste von den Zweifachreinigungen der Vergangenheit, dass
sie es dennoch tun würde. Keiner hatte je darauf verzichtet.
Noch ein Schluck
Saft, und er drehte sich zum Büro des Sheriffs um, ob Peter vielleicht den Mut
aufgebracht hätte, zu kommen und zuzusehen. Doch die
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