Silo: Roman (German Edition)
verfiel wieder in taube
Benommenheit, bewegte einen Fuß nach dem anderen.
Am Ziel wurde sie in
die vertraute Zelle im oberen Stockwerk gebracht, vorbei an Peter Billings und
ihrem ehemaligen Schreibtisch. Der neue Deputy, der sie den Tag über
hinaufeskortiert hatte, ließ sich auf Marnes’ quietschenden Stuhl fallen und
beklagte seine Erschöpfung.
Juliette spürte den
Panzer, der sich in diesen drei langen Tagen um sie herum gebildet hatte, die
harte Schale aus Fassungslosigkeit und Betäubung. Die Leute redeten nicht
leiser – es klang nur so. Sie waren nicht auf Abstand zu ihr gegangen – sie
schienen nur weiter weg zu sein.
Sie setzte sich auf
die einsame Koje und hörte Peter Billings zu, der sie der Konspiration
beschuldigte. Der Memorystick hing in einer schlaffen Plastiktüte wie ein toter
Goldfisch, der sein eigenes Wasser verschluckt hatte. Der Papierstapel mit dem
ausgedruckten Code wurde hereingetragen, anschließend wurden die Einzelheiten
ihrer Computerrecherche vorgelesen. Sie wusste, dass die meisten Daten von
Holstons Rechner stammten, nicht von ihrem. Es hätte aber ohnehin nichts
genützt, Peter darauf hinzuweisen. Es gab auch so ausreichend Anklagepunkte, um
sie gleich mehrmals zur Reinigung zu verurteilen.
Während Peter ihre
Vergehen herunterleierte, stand ein Richter im schwarzen Overall neben ihm – als würde man ihr tatsächlich ein faires Verfahren zugestehen. Juliette wusste,
dass das Urteil längst gefällt war, und sie wusste auch, wer es gefällt hatte.
Scottie wurde
erwähnt, aber sie begriff nicht, in welchem Zusammenhang. Vielleicht hatte man
ihre Mail in seinem Posteingang gefunden. Vielleicht wollte man ihr, für alle
Fälle, auch seinen Tod noch anlasten.
Juliette blendete
die beiden Männer aus und blickte hinter sich auf den Wandmonitor. Ein kleiner
Tornado bildete sich über der Ebene und wirbelte zu den Hügeln hinauf. Die
Staubwolke zerstob und löste sich auf – wie die vielen Verurteilten, die man in
die ätzenden Winde verbannt hatte und dort verrotten ließ.
Bernard zeigte sich
nicht. Dafür war er zu ängstlich oder zu gerissen, Jules würde nie erfahren,
warum genau er ihr ein letztes Gespräch verweigerte. Sie blickte auf ihre
Hände, auf den dünnen Schmutzfilm unter ihren Nägeln, und sie erkannte: Sie war
schon tot. Und irgendwie war es ja auch egal. Sie stand in einer Reihe mit den
vielen Toten vor ihr und den Toten nach ihr. Sie war nur ein Rädchen in der
Maschine, das sich drehte und verschliffen wurde, bis schließlich die Splitter
ihrer selbst abbrachen und größeren Schaden anzurichten drohten, bis man sie
herausziehen und durch ein neues Rädchen ersetzen würde.
Pam brachte ihr
Hafergrütze und Fritten aus der Kantine – ihr Lieblingsessen. Juliette ließ es
dampfend vor dem Gitter stehen. Den ganzen Tag lang wurden kleine Briefchen aus
der Mechanik heraufgetragen und ihr übergeben. Sie war froh, dass keiner ihrer
Freunde zu Besuch kam. Ihre stillen Nachrichten waren mehr als genug.
Sie las die lieben
Grüße, während ihr die Tränen auf die Schenkel tropften. Knox war die Mensch
gewordene Entschuldigung. Sie wusste, dass er lieber etwas unternommen und jemanden
umgebracht hätte, auch wenn er dafür hinausgeschickt worden wäre, es wäre ihm
lieber gewesen, als so ohnmächtig dazustehen. Er werde sein Leben lang bereuen,
nichts getan zu haben, schrieb er. Andere verabschiedeten sich auf spirituelle
Weise von ihr, versprachen, dass sie sich auf der anderen Seite wiedertreffen
würden. Shirly kannte sie vielleicht am besten, sie teilte ihr das Neueste über
den Generator und die neue Zentrifuge mit. Sie schrieb, alles funktioniere
weiterhin gut, und das sei weitgehend auch Juliettes Verdienst. Juliette rieb
mit den Fingern über die Kohlebuchstaben, um die schwarzen Gedanken ihrer
Freunde zumindest zu einem Teil in sich aufzunehmen.
Als Letztes nahm sie
sich Walkers Brief vor und verstand nicht das Geringste. Während die Sonne über
der rauen Landschaft unterging, der Wind zur Nacht hin abflaute und der Staub
sich zu setzen begann, las sie seine Nachricht wieder und wieder und versuchte
zu begreifen, was er ihr sagen wollte.
Jules,
keine Angst. Die Wahrheit ist ein Witz. Und die in der
Versorgungsabteilung sind gar nicht schlecht.
Walk
* * *
Sie
hatte nicht gemerkt, wie sie eingeschlafen war. Als sie aufwachte, lagen die
Briefe wie die Flocken abgeblätterter Farbe überall in ihrer Koje herum, in der
Nacht waren noch mehr durchs
Weitere Kostenlose Bücher