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Silo: Roman (German Edition)

Silo: Roman (German Edition)

Titel: Silo: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hugh Howey
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Dämmerung und die Sterne –, aber
wenn er sie sehen wollte, musste er nur in die Kantine gehen und sie auf dem
Monitor suchen. Sie würde dort draußen liegen, eine Leiche mehr, ein neuer
Anzug, der noch glänzte, auch wenn das Sonnenlicht nur schwach durch die Wolken
drang.
    Im Kopf sah er es
klar vor sich: wie sie dalag, Arme und Beine verdreht, den Helm auf der Seite,
den Blick zum Silo gewandt. Er sah sich selbst, Jahrzehnte später, als alten
Mann vor einem grauen Monitor, und er würde nicht Sternentafeln, sondern
Landschaften malen. Dieselbe Landschaft, wieder und wieder, im Kopf ein
trauriges Hätte-sein-können, die immer gleiche Pose, während seine Tränen auf
das Blatt tropften und die Kohle verschmierten.
    So wie es Marnes
ergangen war, dem armen Mann. Er dachte an Marnes, um den niemand wirklich
getrauert hatte, einfach weil es niemanden mehr gegeben hatte. Lukas fiel ein,
was Juliette als Letztes zu ihm gesagt hatte. Sie hatte ihn gebeten, sich
jemanden zu suchen, nicht wie sie zu werden, nicht allein zu bleiben.
    Er griff nach dem
kalten Stahlgeländer im fünfzigsten Stock und beugte sich darüber. Wenn er nach
unten schaute, konnte er sehen, wie sich die Treppe tief in die Erde bohrte. Er
erkannte den Treppenabsatz des Sechsundfünfzigsten unter sich, die Entfernung
war schwer abzuschätzen, aber es würde auf jeden Fall reichen. Man brauchte
nicht bis auf den Zweiundachtzigsten hinunterzugehen, was die meisten
Selbstmörder taten, weil man von dort aus schnurstracks bis auf den
Neunundneunzigsten fiel.
    Er sah sich fliegen,
dort hinuntertrudeln, Arme und Beine ausgebreitet. Er nahm an, dass er den
Treppenabsatz einfach verfehlen würde. Eines der Geländer würde ihn abfangen
und in zwei Teile schneiden. Oder vielleicht, wenn er etwas weiter sprang, mit
dem Kopf voran, dann konnte er es kurz und schmerzlos machen.
    Er straffte sich,
weil er vor lauter Angst plötzlich einen Adrenalinstoß bekam. Er sah sich im
morgendlichen Verkehr um, ob ihn jemand beobachtete. Er hatte schon andere
Erwachsene über das Geländer gucken sehen und war immer davon ausgegangen, dass
ihnen düstere Gedanken durch den Kopf gegangen waren. Schließlich war er im
Silo aufgewachsen und wusste, dass nur Kinder versehentlich etwas über das
Geländer fallen ließen.
    Der Treppenabsatz
erzitterte vom Schritt eines eiligen Trägers, dann kam das Geräusch nackter
Füße auf Stahlstufen näher. Lukas trat vom Geländer zurück und versuchte,
endlich zu entscheiden, was er an diesem Tag tun würde. Vielleicht sollte er
doch wieder ins Bett kriechen und schlafen, ein paar Stunden totschlagen.
    Er war noch immer
dabei, sich wenigstens ein bisschen zu motivieren, als der Träger geradezu an
ihm vorbeiflog, und Lukas erhaschte einen Blick auf das vollkommen
konsternierte Gesicht des Jungen. Selbst als er schon außer Sichtweite war – er
war wirklich ungewöhnlich schnell –, blieb sein Gesichtsausdruck Lukas im
Gedächtnis.
    Und Lukas wusste
sofort Bescheid. Er wusste, dass an diesem Morgen etwas passiert war, und zwar
ganz oben, etwas Interessantes, das mit der Reinigung zu tun hatte.
    Tief in ihm begann
ein Samen der Hoffnung zu sprießen, ein Gefühl, das er kaum zulassen konnte,
weil er Angst hatte, daran zu ersticken. Vielleicht hatte die Reinigung nicht
stattgefunden. Hatten sie das Urteil womöglich zurückgezogen? Die Leute aus der
Mechanik hatten eine Petition geschickt. Mehrere Hundert Unterschriften von
Leuten, die ihren eigenen Kopf riskierten, um Juliette zu retten. Hatte diese
wahnsinnige Geste die Richter überzeugt?
    Die Hoffnung
erfüllte ihn mit dem Drang, nach oben zu rennen und sich mit eigenen Augen zu
überzeugen, was vorgefallen war. Er verließ den Treppenabsatz, verwarf die
Idee, seinen Sorgen hinterherzuspringen, und schob sich durch den morgendlichen
Verkehr. Überall auf den Stufen wurde getuschelt. Lukas war nicht der Einzige,
dem der bedeutungsvolle Gesichtsausdruck des Trägers aufgefallen war.
    Als er sich in den
Aufwärtsverkehr eingereiht hatte, stellte er fest, dass die Schmerzen in seinen
Beinen verflogen waren. Er wollte gerade eine Familie vor sich überholen, als
er hinter sich das laute Krächzen eines Funkgeräts hörte.
    Lukas drehte sich um
und entdeckte Deputy Marsh, der ein paar Schritte hinter ihm stand und an dem
Funkgerät an seinem Gürtel herumfummelte. Er presste mit der anderen Hand einen
kleinen Pappkarton an seine Brust, und auf seiner Stirn stand der Schweiß.
    Lukas

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