Silo: Roman (German Edition)
einander über
die Bühne jagten und hinfielen und Quatsch machten, lachte sie genauso laut wie
die anderen Kinder. Immer wieder sah sie zu ihren Eltern, ob sie auch
zuguckten. Sie zupfte an ihren Ärmeln, aber sie nickten nur und redeten, aßen
und tranken weiter. Als eine andere Familie sich in ihre Nähe setzte und ein
Junge, der etwas älter war als sie, ebenfalls über die Jongleure lachte, hatte
Juliette plötzlich das Gefühl, nicht mehr allein zu sein. Sie lachte noch
lauter. Die Jongleure waren das Bunteste, was sie je gesehen hatte. Sie hätte
ewig zuschauen mögen.
Aber dann wurde das
Licht gedimmt, das Stück begann, und im Vergleich zum Vorprogramm war es
langweilig. Es fing ganz gut an, mit einem Schwertkampf, aber dann wurden
seltsame Wörter gesprochen, ein Mann und eine Frau guckten sich so an, wie ihre
Eltern sich oft anguckten, und betonten ihre Sätze irgendwie komisch.
Juliette schlief
ein. Sie träumte, sie würde mit hundert bunten Bällen und Reifen zusammen durch
den Silo fliegen. Sie bekam die Bälle immer gerade eben nicht zu packen, und
die Reifen waren so rund wie die Ziffern der Stockwerksnummer vor dem Markt.
Schließlich wachte sie von lauten Pfiffen und begeistertem Applaus wieder auf.
Ihre Eltern waren
aufgestanden und jubelten, während die Leute auf der Bühne in ihren komischen
Kostümen sich mehrmals verbeugten. Juliette gähnte und sah zu dem Jungen auf
der Bank neben ihr. Er schlief mit offenem Mund, den Kopf auf dem Schoß seiner
Mutter, seine Schultern bebten, als sie applaudierte.
Sie legten das Laken
zusammen, und ihr Vater trug sie hinunter zur Bühne, wo die Schwertkämpfer und
die Leute, die so komisch gesprochen hatten, mit den Zuschauern redeten und
ihnen die Hände gaben. Juliette wollte gern die Jongleure kennenlernen. Sie
wollte lernen, wie man die Reifen in die Luft warf und wieder auffangen konnte.
Aber ihre Eltern warteten stattdessen, bis eine der Damen kam und mit ihnen
sprach. Es war die, die ihre Haare geflochten und zu Schaukeln gebunden hatte.
»Juliette«, sagte
ihr Vater und hob sie auf die Bühne, »das hier ist … Juliette.«
»Heißt du wirklich
so?«, fragte die Dame, kniete sich hin und griff nach Juliettes Hand.
Juliette zog sie
zurück, wie bei dem Kaninchen, nickte aber.
»Sie waren
wundervoll«, sagte ihre Mutter zu der Dame. Sie schüttelten sich die Hände und
stellten sich vor.
»Hat dir das Stück
gefallen?«, fragte die Dame mit der Frisur.
Juliette nickte. Sie
hatte das Gefühl, das würde so von ihr erwartet, und deswegen sei es in Ordnung
zu lügen.
»Mein Mann und ich
waren vor Jahren schon einmal hier, als wir uns gerade kennengelernt hatten«,
sagte ihre Mutter. Sie strich Juliette über den Kopf. »Damals haben wir
beschlossen, unser erstes Kind entweder Romeus oder Juliette zu nennen.«
»Na, dann freue ich
mich, dass es ein Mädchen geworden ist«, sagte die Frau.
Ihre Eltern lachten,
und Juliette hatte nicht mehr so viel Angst vor der Frau, die genauso hieß wie
sie.
»Ob wir wohl ein
Autogramm haben könnten?« Ihr Vater ließ ihre Schulter los und wühlte in seiner
Tasche. »Irgendwo habe ich das Programm.«
»Warum denn nicht
ein Textheft für die kleine Juliette?« Die Dame lächelte sie an. »Lernst du
schon schreiben?«
»Ich kann bis
hundert zählen«, sagte Juliette stolz.
Die Frau stutzte,
dann lächelte sie. Juliette sah ihr zu, wie sie aufstand und über die Bühne
ging, wobei ihr Kleid so schön schwang, wie sie es bei einem Overall noch nie
gesehen hatte. Die Dame kam hinter einem Vorhang wieder hervor und brachte ein
winziges Heft aus Papierblättern mit, die von Messingklammern zusammengehalten wurden.
Sie nahm das Kohlestück von Juliettes Vater entgegen und schrieb in großen,
geschwungenen Buchstaben ihren Namen auf den Umschlag.
Dann drückte sie ihr
die Seiten in die Hand und sagte: »Das ist für dich, Silo-Juliette.«
Ihre Mutter
protestierte. »Das können wir doch nicht annehmen. So viel Papier …«
»Sie ist erst fünf«,
sagte ihr Vater.
»Ich habe noch
eines«, sagte die Dame. »Wir binden die Hefte hier unten selbst. Ich möchte,
dass sie es bekommt.«
Sie streichelte ihr
die Wange, und diesmal zuckte Juliette nicht zurück. Sie war zu beschäftigt
damit, durch die Seiten zu blättern und sich die geschwungenen
handschriftlichen Notizen neben den gedruckten Wörtern anzusehen. Ein Wort,
merkte sie, war zwischen den anderen immer wieder eingekreist. Sie konnte nicht
viele Wörter
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