Silo: Roman (German Edition)
verbracht hatte, hatten die Arbeiter in der Versorgung
das Material der IT durch das Material
der Mechanik ersetzt. Sie hatten die Bestellung zu Juliettes Gunsten
uminterpretiert, und das musste auf Walkers Anweisung geschehen sein. Und die IT hatte – unwissend, dieses eine Mal – einen Anzug
gebaut, der dafür gemacht war zu halten , nicht, sich aufzulösen.
Ihr Tod, so sicher
er auch war, würde hinausgezögert werden. Sie betrachtete die Linsen eingehend,
entspannte ihre Finger und ließ das Wolle-Pad auf das falsche Gras fallen. Sie
wandte sich zum nächsten Hügel und versuchte, die Farben und Bilder zu
ignorieren, die auf das projiziert wurden, was wirklich da war. Statt sich der
Euphorie hinzugeben, konzentrierte sie sich darauf, wie ihre Stiefel auf die
feste Erde auftraten, sie spürte den Wind an ihrem Anzug zerren und lauschte
dem Geräusch des Sandes, der gegen ihren Helm gefegt wurde. Die Welt hier
draußen war so feindlich, wie sie es immer gewesen war, sie konnte sie vage
wahrnehmen, wenn sie sich sehr konzentrierte, eine Welt, die sie seit Langem kannte,
aber nicht mehr sehen konnte. Sie stapfte den steilen Hügel hinauf und grob in
die Richtung der schimmernden Stadt am Horizont. Nicht, dass sie daran geglaubt
hätte, tatsächlich bis dorthin zu kommen. Aber sie wollte zumindest hinter dem
Hügel sterben, wo niemand ihr dabei zusehen würde. Sie dachte an Lukas, den
Sternengucker, der keine Angst würde haben müssen, in der Dämmerung nach oben
zu kommen und ihre Leiche zu sehen.
Und plötzlich fühlte
es sich gut an, einfach weiterzugehen. Sie würde sich außer Sichtweite bringen.
Das war ein vernünftigeres Ziel als diese falsch glitzernde Stadt, von der sie
wusste, dass sie in Wahrheit verfiel.
Als sie ein Stück
den Weg hinaufgegangen war, kam sie zu zwei Felsbrocken. Juliette wich ihnen
aus, dann erkannte sie, wo sie war, dass sie dem weniger steilen Weg zwischen
zwei Hügeln gefolgt war und dass hier die schrecklichste Lüge von allen lag.
Holston und Allison.
Durch das Visier vor ihr verborgen. Überlagert von einer Projektion, die ihr
zwei Steine vorgaukelte.
Es gab keine Worte
dafür. Sie schaute den Hügel hinunter und entdeckte ein paar weitere Steine im
Gras, dort, wo die anderen Verurteilten nach der Reinigung zusammengebrochen
waren.
Sie wandte sich ab
und ließ den traurigen Anblick hinter sich. Es war unmöglich abzuschätzen, wie
viel Zeit sie hatte, wie viel Zeit, um ihre Leiche vor denen zu verbergen, die
sich an dem Anblick erfreuen würden – und den wenigen, die um sie trauern
würden.
Auf dem Weg den
Hügel hinauf erkannte Juliette die ersten Lücken im betrügerischen Bild der IT. Neue Teile des Himmels und der Stadt kamen in Sicht,
die unteren Teile, die bislang von den Hügeln verdeckt gewesen waren. Und hier
schien das Programm nun an seine Grenzen zu stoßen. Die oberen Stockwerke der
Hochhäuser wirkten heil und schimmerten im hellen Sonnenlicht, aber unterhalb
von dem glänzenden Glas und Stahl lag der Schmutz einer verlassenen Welt. Durch
die meisten Gebäude konnte sie unten geradewegs hindurchsehen, und mit den
schweren, daraufprojizierten Obergeschossen sah es aus, als müssten sie jeden
Moment einstürzen. Die Gebäude am Stadtrand, die zusätzlich ins Bild projiziert
worden waren, hatten überhaupt keinen Fuß, kein Fundament. Sie schwebten in der
Luft, darunter der dunkle Himmel, der leblose Hügel und die grauen Wolken, die
anzeigten, wo das Programm zu Ende war.
Juliette wunderte
sich über die unvollständige Projektion. Hatten die Techniker in der IT selbst keine Ahnung, was hinter den Hügeln lag, und
konnten daher nicht wissen, was modifiziert werden musste? Oder fanden sie,
dass es die Anstrengung nicht wert sei, weil es sowieso niemand je so weit
geschafft hatte? Was auch immer der Grund war, das flackernde und unlogische
Bild im Visier machte sie ganz benommen. Sie konzentrierte sich auf ihre Füße
und stieg das letzte Dutzend Schritte den grün gestrichenen Hügel hinauf bis
zur Kuppe.
Oben machte sie eine
Pause, die Windböen rissen an ihr, sie konnte sich bequem hineinlehnen. Sie
suchte den Horizont ab und stellte fest, dass sie an der Grenze zwischen zwei Welten
stand. Wenn sie vor sich den Hügel hinuntersah, blickte sie in eine Landschaft,
die sie nie zuvor gesehen hatte, eine kahle Welt aus Staub und vertrockneter
Erde. Es war ein neues Stück Land, aber es kam ihr vertrauter vor als die heile
Welt, die sie bis hierhin gesehen
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