Silo: Roman (German Edition)
Büros, Geschäfte,
eine Plastikfabrik und eine kleine Wasseraufbereitungsanlage. Er schob sich
durch die Tür und eilte die Flure entlang, die nach der zweiten Reinigung
innerhalb weniger Tage erneut still dalagen. Er kam zu dem Raum, in dem die
Pumpen überwacht wurden, öffnete die Tür mit dem IT-Generalschlüssel. In dem Raum stand ein hoher Computerschrank, den er
von seinem Dienstagskontrollgang in- und auswendig kannte. Lukas schaltete das
Deckenlicht nicht an, damit das kleine Fenster in der Tür dunkel blieb. Er
zwängte sich hinter den hohen Serverschrank, ließ sich dort auf den Boden
nieder und holte seine Taschenlampe aus dem Overall.
Im rot gedämpften
Lichtstrahl löste Lukas vorsichtig die Laschen, mit denen die Schachtel
verschlossen war, und betrachtete ihren Inhalt.
Und bekam sofort ein
schlechtes Gewissen. Seine Vorfreude war verflogen, die Hoffnung, womöglich
etwas wirklich Intimes zu entdecken. Er hatte kein schlechtes Gewissen, weil er
seinen Boss betrog oder Deputy Marsh belogen hatte oder die Auslieferung von
dieser angeblich so wichtigen Kiste verzögerte. Er fühlte sich schlecht, weil
er ihre Sachen entweihte. Das hier war alles, was von Juliette noch geblieben
war. Nicht ihr Körper, der war unwiederbringlich verschwunden, sondern die
Überreste des Lebens, das sie gelebt hatte.
Er holte tief Luft
und dachte kurz darüber nach, die Laschen einfach wieder zu schließen und den
Inhalt zu vergessen. Dann überlegte er, was ohne ihn damit passieren würde.
Seine Freunde von der IT würden die
Schachtel aufreißen und mit den Sachen handeln wie Kinder, die Süßigkeiten
tauschten. Sie würden Juliettes Besitz noch weit mehr entweihen als er selbst.
Er bog die Laschen
nach außen und beschloss, ihr lieber selbst die letzte Ehre zu erweisen.
Er richtete seine
Lampe auf die Schachtel und sah obenauf einen Stapel Silogutscheine, die mit
einem Stück Draht zusammengehalten wurden. Er nahm sie heraus und blätterte
hindurch. Urlaubsgutscheine. Dutzende. Er hielt sie sich an die Nase und
wunderte sich über den scharfen Ölgeruch, der aus dem Karton aufstieg.
Unter den
Gutscheinen lagen ein paar abgelaufene Essensmarken, und darunter schaute die
Ecke einer Ausweiskarte hervor. Lukas griff danach, sie war silbern, die Karte,
die sie als Sheriff bekommen hatte. Er suchte nach einem weiteren Ausweis, aber
offensichtlich war sie noch nicht wieder in der Mechanik gemeldet gewesen,
welche Farbe auch immer dort unten verwendet wurde. Es war nicht viel Zeit
gewesen zwischen ihrer Entlassung und der Todesstrafe.
Einen Augenblick
lang betrachtete er das Bild auf dem Abzeichen. Es wirkte recht aktuell, genau
so hatte er Juliette in Erinnerung. Das Haar so straff zurückgebunden, dass es
eng am Kopf anlag. Am Hals guckten einzelne Löckchen heraus, er erinnerte sich
an die erste Nacht, in der er sie beobachtet hatte, wie sie sich das lange Haar
geflochten hatte, als sie allein in der Kantine saß und Seite um Seite in ihren
Akten las.
Er strich mit den
Fingern über das Bild und lachte, als er ihren Gesichtsausdruck sah. Sie
runzelte die Stirn und hatte die Augen zusammengekniffen, als wollte sie
herauskriegen, was der Fotograf vorhatte oder warum zum Teufel das alles so
lange dauerte.
Er legte die
Gutscheine in die Schachtel zurück, steckte sich den Ausweis aber in die
Brusttasche, als hätte Juliette das so gewollt. Dann fiel sein Blick auf ein
silbernes Multitool, das ganz neu aussah und ein bisschen anders war als
seines. Er nahm es heraus und beugte sich vor, um seines aus der Gesäßtasche zu
holen. Er verglich die beiden, klappte aus ihrem ein paar Schraubenzieher
heraus und bewunderte die reibungslose Beweglichkeit und das dezente Klicken,
wenn eines der Werkzeuge wieder einrastete. Er nahm sich einen Moment Zeit, um
sein Multitool zu säubern, die Fingerabdrücke abzuwischen und ein Stückchen
geschmolzene Kabelummantelung aus dem Griff zu entfernen, dann tauschte er die
Werkzeuge aus. Er wollte die Erinnerung an Juliette behalten. Sein eigenes
Werkzeug würde im Lager landen oder an irgendeinen Fremden verhökert werden.
Lukas erstarrte, als
er Schritte und Gelächter hörte. Er hielt die Luft an und rechnete damit, dass
jemand hereinkommen und das Licht anmachen würde. Neben ihm klickte und surrte
der Server. Die Geräusche im Flur verklangen, das Lachen wurde leiser.
Ihm war klar, dass
er das Schicksal herausforderte, trotzdem blieb er sitzen. Es lag noch mehr in
der Schachtel. Er
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