Silo: Roman (German Edition)
wühlte darin und fand ein kleines, verziertes Holzkästchen,
eine wertvolle Antiquität. Es war nur etwas größer als seine Handfläche, und er
brauchte einen Moment, um herauszufinden, wie sie sich öffnen ließ. Das Erste,
was er sah, als der Deckel aufging, war ein Ring, der Ehering einer Frau,
möglicherweise aus massivem Gold, aber das war im Schein seiner präparierten
Taschenlampe nur schwer zu sagen.
Er suchte nach einer
Gravur, fand aber nichts. Ein seltsames Schmuckstück, dieser Ring. Er war sich
sicher, dass Juliette ihn nicht getragen hatte, als sie sich kennengelernt
hatten, und er fragte sich, ob er einer Verwandten gehört hatte oder noch von
vor dem Aufstand stammte. Er legte ihn wieder in das Holzkistchen zurück und
holte etwas anderes heraus, eine Art Armband. Nein, kein Armband. Als er es
ganz herausgezogen hatte, sah er, dass es eine Uhr war, das Ziffernblatt war so
klein, dass es sich genau in das Design des juwelengeschmückten Armbands
einpasste. Lukas betrachtete die Uhr eingehend und merkte bald, dass entweder
seine Augen oder das rote Taschenlampenlicht ihm einen Streich spielten. Oder?
Er sah noch einmal genauer hin – und sah, dass einer dieser winzig dünnen
Zeiger sich tatsächlich bewegte. Das Ding funktionierte!
Bevor er darüber
nachdenken konnte, was es bedeutete, wenn er einen solchen Gegenstand
verschwinden ließ und möglicherweise dabei erwischt wurde, steckte Lukas die
Uhr in seine Brusttasche. Er betrachtete den Ring, der allein in der Kiste lag,
und nahm ihn nach kurzem Zögern ebenfalls an sich. Dann sammelte er ein paar
Wertmarken ein, die auf dem Boden des Kartons herumflogen, und legte sie
stattdessen in das antike Kästchen.
Was machte er hier
eigentlich? Er spürte einen Schweißtropfen an seiner Schläfe herunterrinnen.
Die Hitze hinter dem Computer schien immer größer zu werden. Er ließ den Kopf
sinken und wischte sich mit der Schulter den Schweiß von der Wange. Es war noch
mehr in dem Karton, und er konnte nicht anders: Er musste noch einmal
hineinsehen.
Er fand ein kleines
Notizbuch und blätterte es durch. Darin stand eine To-do-Liste nach der
anderen, sämtliche Punkte waren ordentlich durchgestrichen. Er legte das Buch
zurück und griff nach einem gefalteten Stück Papier am Boden des Kartons, dann
merkte er, dass es mehr als nur ein Blatt war. Er zog einen dicken Stapel
Blätter heraus, die von Messingklammern zusammengehalten wurden. Obendrauf
stand in derselben Handschrift wie in dem Notizbuch:
Bedienungsanleitung für den Kontrollraum
der Generatorenhalle
Er
blätterte durch die Seiten und sah unergründliche Diagramme und Notizen an den
Rändern. Es sah aus wie etwas, das Juliette selbst geschrieben hatte, entweder,
um sich zu merken, was sie im Laufe der Zeit über die Funktionsweise der
Generatoren gelernt hatte, oder vielleicht auch als Anleitung für andere.
Er drehte den Stapel
um, betrachtete die Rückseite und stellte fest, dass es ein Deckblatt war: »Die
tragische Geschichte von Romeus und Juliette« . Es war ein Theaterstück,
eines, von dem Lukas schon gehört hatte, und Juliette hatte das Textheft als
Schreibblock benutzt, indem sie einfach die freien Rückseiten beschrieben
hatte. Im Server vor ihm ging ein Ventilator an und blies kühle Luft über die
erhitzten Siliziumchips und Drähte. Lukas wischte sich den Schweiß von der
Stirn und legte das gebundene Heft wieder in den Karton, arrangierte die
anderen Dinge ordentlich darauf und steckte die Laschen wieder zusammen. Dann
löschte er seine Taschenlampe und schob sie in die Tasche zu Juliettes
Multitool. Mit dem Karton unter dem Arm tastete er mit der anderen Hand nach
seiner Brusttasche und spürte Juliettes Uhr, den Ring und den Ausweis mit ihrem
Bild. Alles nah an seinem Herzen.
Lukas schüttelte den
Kopf. Er stahl sich aus dem kleinen, dunklen Raum, ein Turm aus blinkenden
Lichtern sah ihm zu, und er fragte sich, was zum Teufel er eigentlich tat.
36. KAPITEL
»Augen,
blickt euer Letztes! Arme, nehmt die letzte
Umarmung! und o Lippen, ihr, die Tore
Des Odems, siegelt mit rechtmäß’gem Kusse
Den ewigen Vertrag dem Wuchrer Tod!«
Die
Leichen lagen überall. Bedeckt von Staub und Schmutz, die Kleidung zerfressen
von der giftigen Luft. Juliette stolperte ständig über neue Körper. Es wurden
immer mehr, wie eine einzige Masse. Ein paar trugen ähnliche Anzüge wie sie,
aber die meisten trugen Lumpen, die bereits zu Fetzen zerfressen waren. Der
Wind wehte diese
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