Sils Maria: Kriminalroman (German Edition)
Vinzi unterbrach sich. »Du glaubst doch nicht etwa …«
»Hmm«, kam jetzt von Plotek, nur bestimmter. Bei ihm bestand kein Hauch von Zweifel.
Sie folgten den Abdrücken im Schnee. Die Fährte führte aber nicht in den Wald, sondern erstaunlicherweise durch ganz Sils Maria hindurch, am Gemeindehaus vorbei, an der Bar Gaia , am Anglergeschäft, an der evangelischen Kirche, an der Schule. Plotek geriet außer Atem – bis die Spur so plötzlich, wie sie aufgetaucht war, wieder endete. Und zwar in der Nähe der Privatklinik, genau vor einem Haus, das aussah wie ein Einfamilienhaus.
»Das ist die Bibliothek.«
»Sieht gar nicht so aus.«
»Was will ein Reh in einer Bibliothek?«, fragte Plotek.
»Keine Ahnung. Ein Buch ausleihen vielleicht.«
»Hmm.«
»Ja, ein Kochbuch vermutlich.«
Plotek dachte ernsthaft darüber nach.
»In dem das Rezept zum Rehfilet mit Preiselbeersoße und Maronenpüree zu finden ist«, sagte Vinzi, sodass Plotek das Wasser im Mund zusammenlief.
»Oder das Rehleberparfait mit Cointreau und Majoran.«
»Suchen Sie was?« Eine knarzige Stimme wie eine alte Kommode. Aus einem geöffneten Fenster im ersten Stock sah eine Frau auf die beiden herunter.
»Ein Reh«, hätte Plotek jetzt sagen können. Aber vermutlich hätte es die Frau nicht verstanden. Ließ er es eben.
»Man sucht immer was«, versuchte es Vinzi über Umwege. Soll heißen: über den Rücken von hinten ins Herz. Die Frau am Fenster schien getroffen. Sie verzog das Gesicht, als wollte sie fragen: »Was?«
»Na ja, eine günstige Gelegenheit, die letzte Chance, eine schöne Frau, das Glück …«, stocherte Vinzi im Ungefähren herum und schien nicht fündig zu werden. Zumindest nicht bei der Frau am Fenster. Sie schlug, ohne einen weiteren Kommentar, das Fenster zu. Ihre Suche war wohl beendet.
»Na, bei der hast du offensichtlich keinen Erfolg«, sagte Plotek ein wenig amüsiert.
»Sieht so aus.«
Als sie zurück am Hotel Zentral waren, kam gerade die Hauptkommissarin, unterm Arm ihre schweinslederne Mappe, aus dem chinesischen Restaurant.
»Und geht’s wieder?« Sie blieb vor den beiden stehen und fixierte Plotek.
»Geht.«
»Und bei Ihnen?«, fragte Vinzi.
»Alles klar. Zeugenaufnahme abgeschlossen. Die Kleider des toten Mädchens wurden sichergestellt. Die Leiche ist unterwegs ins Gerichtsmedizinische Institut.« Wieder die Finger gespreizt wie Zweige am Ast. »Ich schätze mal, morgen früh ist die Sache erledigt.« Eine entspannte Miene eroberte das Gesicht der jungen Hauptkommissarin.
»Und jetzt?«
»Habe ich Feierabend und fahre nach Hause.« Die Miene wurde immer entspannter. Vera Frischknecht ließ die beiden stehen und näherte sich ihrem geparkten Wagen.
»Bis bald!« Vinzi winkte mit den Beinstümpfen.
»Bis zum nächsten Kältetoten«, kam von der Hauptkommissarin zurück. Sie winkte ebenfalls.
»Wiedersehen.«
»Ja.«
Die beiden waren ein wenig traurig und sahen der feschen Frau Frischknecht hinterher, wie sie in einen dunkelblauen BMW stieg und mit einer Spur zu viel Gas vom hoteleigenen Parkplatz fuhr. Nachdem auch die Rücklichter des BMW in der Nacht verschwunden waren, öffneten die beiden ihre Glückskekse.
»Und?«, fragte Plotek.
»Das Glück liegt in uns, nicht in den Dingen«, las Vinzi vom Zettelchen.
»Welchen Dingen?«
»Keine Ahnung.« Vinzi hob die Schultern. »Und bei dir?«
»Eine kleine Überraschung erwartet Sie.«
»Da bin ich ja mal gespannt.«
»Ich auch!«
5
Er schlief wieder bestens. Noch besser als die Nacht zuvor. Das Knurren des Magens war kaum mehr wahrnehmbar. Plotek schien sich langsam, aber sicher an den Nahrungsmittelverzicht zu gewöhnen. Das Hungergefühl war nur mehr selten spürbar. Selbst der Tee am Morgen schmeckte nicht mehr ganz so widerlich. Nur der schlechte Geschmack im Mund nahm zu. Wenn er in die hohle Hand vor dem Mund atmete, roch es, als wäre dort das Endstück eines Kanalisationsrohres einer Hochhaussiedlung. Oder Teil einer Biogasanlage. Außerdem hielt das Zucken über dem rechten Auge beharrlich an. Ganz zu schweigen vom Schwindelgefühl, von den zitternden Knien und den Gleichgewichtsstörungen beim Qigong. Ansonsten ging es Plotek aber erstaunlich gut.
»Hab ich es nicht gesagt?« Marlies, die mollige Patientin mit dem schönen Gesicht, buhlte wieder um Ploteks Aufmerksamkeit. Selbst daran gewöhnte er sich langsam.
»Wir stellen uns entspannt in den Reiterstand, die Knie gebeugt, das Becken leicht gekippt, Schultern
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