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Sils Maria: Kriminalroman (German Edition)

Sils Maria: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Sils Maria: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sobo Swobodnik
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außer Atem, und seine Knie zitterten wie auf der Qigong-Matte.
    Es war eine Scheißidee, spazieren zu gehen, dachte Plotek zum hundertsten Mal. Er verfluchte sich selbst deswegen noch öfter und wollte auf Höhe des prächtigen Hotel Waldhaus schon wieder umkehren, als er plötzlich rechts von der Straße einen sich langsam bewegenden dunklen Fleck zu erkennen glaubte. Plotek blieb stehen. Der Fleck ebenso. Das Dunkel wurde braun. Der Fleck bekam Form, wurde zur Gestalt.
    War das nicht ein Reh? Das Reh?!, fragte sich Plotek und hatte gleichzeitig den Eindruck, auch das Reh frage sich etwas und winke ihn dabei mit dem Huf zu sich, um diese Frage näher zu erörtern. Er merkte, wie ihn ein Schwindelgefühl überkam. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Er fror einerseits und schwitzte andererseits.
    So müssen sich Kältetote fühlen, kurz bevor sie sterben, dachte er, während er noch immer das Reh vor sich sah, wenn auch verschwommen. Er wischte sich mit der Hand über das Gesicht, die Augen. Das Reh verschwand aber nicht. Immerhin: Das Winken war nicht mehr zu sehen. Dafür glaubte er nun im Schneegestöber ein Zischeln zu vernehmen. Leise, aber doch hörbar.
    »Komm, komm, komm!« Helle Töne umwehten ihn wie singender Wind, die Worte waren dabei kaum zu vernehmen.
    Plotek verließ die Straße, schlug sich in die Büsche und folgte, mehr tastend als gehend, der Melodie. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen, sank aber immer wieder in den Schneemassen ein. Je näher er dem Reh kam, umso undeutlicher war es zu sehen. Als würde es sich immer weiter von Plotek entfernen. Obgleich er nicht das Gefühl hatte, das Reh bewege sich.
    Plotek legte einen Zahn zu und machte größere, auch weniger vorsichtige Schritte. Dabei musste er feststellen, dass er für die Verfolgung eines Rehs nicht gerade ideal ausgestattet war. Auch wenn dieses Reh kein normales zu sein schien, sondern menschliche Züge hatte, sprach, sang und winkte. Seine abgelatschten Halbschuhe rutschten auf dem Waldboden herum, als wäre das kein Waldboden, sondern der zugefrorene Silsersee. Dennoch verfiel Plotek nun immer mehr dem Gedanken, dem Reh möglichst nahe zu kommen. Er rannte jetzt auf das Reh zu wie auf die Ziellinie im 100-Meter-Lauf bei den Bundesjugendspielen. Und so, als wäre er nicht der über vierzigjährige Plotek, sondern das Kind in kurzen Hosen und fast schon am Ziel.
    Aber denkste! Ein Waldboden ist alles andere als ein planer Feldweg. Soll heißen: Er birgt heimtückische Stolperfallen – Wurzeln, Äste, Steine, Unterholz –, die einen bestens ins Straucheln bringen können. Außerdem sind Mokassins keine Turnschuhe. Ganz davon abgesehen, dass die Zeiten, in denen Plotek rennend eine gute Figur gemacht hatte, lange, sehr lange vorbei waren. Und plötzlich fiel auch noch ein Schuss. Laut, hallend und nicht weit von Plotek entfernt peitschte er durch die kalte, schneestiebende Luft. Es kam, wie es kommen musste. Bedeutet: Plotek erschrak, rutschte dabei mit seinen profillosen Mokassins aus, stolperte über ein Hindernis und stürzte auf die Erde. Der 100-Meter-Lauf wurde zum Weitsprung. Der Waldboden zur Sandgrube. Obwohl: Auch das stimmte nicht ganz. Es sah vielmehr aus wie eine völlig missglückte Arschbombe im Freibad. Wie dem auch sei, auf jeden Fall landete er kopfüber im Schnee.
    »Verdammt!«
    Es knallte erneut. Ein weiterer Schuss hallte durch den Wald.
    Irgendjemand ballert hier zwischen den Bäumen herum, dachte Plotek. Ist auf der Jagd. Womöglich nach dem Reh. Oder nach mir.
    »Verflucht!«
    Blieb Plotek eben einfach etwas länger als gewöhnlich auf dem nassen Waldboden liegen. Und starrte plötzlich direkt in ein Gesicht. Und Überraschung: Er erschrak gar nicht. Er sah in das Gesicht wie in den Schaum von einem Weißbier. Interessiert, ja, neugierig, als könnte er darin etwas lesen. Es war das Gesicht eines Mannes. Aber nicht irgendein Männergesicht, sondern ein ganz besonderes: Elvis Presley! Das Gesicht vor ihm sah ganz genau wie in dem Film Liebling, lass das Lügen sein aus, als Elvis auf einem Sofa liegt und schläft und dabei von einem Hund beobachtet wird. Wie der Tote jetzt von Plotek. Allerdings hatte Plotek dieses Gesicht nicht nur vor vielen Jahren auf Zelluloid gesehen, sondern auch gestern im Hotel Zentral . Beim Frühstück. Oder besser: Nicht-Frühstück. Das Gesicht gehörte eindeutig einem der Elvis-Imitatoren. Und der lag jetzt, nackt und vom Schnee halb bedeckt, vor ihm im

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