Sils Maria: Kriminalroman (German Edition)
verschwundene tote Reh denken.
»… Beziehungen, Freundschaften, Gegenstände …«
Hat er jetzt Gegenstände gesagt?, dachte Plotek und merkte, wie sich sein Mund zu einem Schmunzeln verzog. Die Worte fielen Vinzi aus dem seinigen wie überreife Früchte vom Baum der Erkenntnis: »… Vertrautheiten, Berührungen, Körper, Intimitäten …« Er schraubte sich immer weiter voran, in Zonen, die nicht ungefährlich waren und in einer gewissen Nähe zu Gräfenberg standen. Plotek gab Vinzi mit dem Ellbogen einen kleinen Schubs.
»Mit Ihnen zum Beispiel hier in dieser netten Runde zu sitzen – das gehört schon zum Angenehmeren.«
Blickkontakt von Vinzi und Frischknecht auf Höhe des genitalreferenziellen Bereichs.
»Aber dabei gleich sterben?« Der Hauptkommissarin schien Vinzis sprachliche Ejakulation zu gefallen. Sie lachte, hochtonig, befreiend, schön. Die Daumen stoppten. Die Hände wurden entfaltet. Dann fuhr sie, wieder um Ernsthaftigkeit bemüht, fort: »Sehen Sie, da gehört Sils Maria schon zu den besseren Adressen, nicht wahr?«
Mag sein, dachte Plotek, womöglich ein schöner Ort zum Sterben. Aber auf keinen Fall nackt.
»Ich weiß, was Sie denken«, sagte der aufgeweckte Kripofeger und nagelte dabei Plotek wieder mit ihrem Blick fest. Neue Schweißperlen auf der Stirn waren die Folge. »Aber womöglich hat das was Befreiendes.«
Plotek fühlte sich, als wäre er von den Augen der Kriminalbeamtin auf einem Brett festgebunden und würde mit scharfen Messern beworfen. Während Vinzi insgeheim bestimmt hoffte, dass jetzt nach dem Wort Befreiendes auch die Bluse fallen würde. Aber denkste.
»Und für die Entdecker der Leiche ist es ja ansehnlich, nicht wahr?«
»Kommt darauf an«, kam von Vinzi.
»Worauf?«
»Auf die Leiche.«
»Stimmt.« Ein breites Lächeln im Gesicht von Vera Frischknecht.
Während nun wieder das tote, nackte Mädchen in den Köpfen von Plotek und Vinzi auftauchte, stand die Hauptkommissarin vom Tisch auf. »Entschuldigen Sie mich bitte.«
Sie durchquerte die Gaststube, elegant, tänzerisch, in Richtung Klo. Plotek und Vinzi sahen ihr hinterher. Beschwingt vom Hüftschwung, verzaubert, auch ein wenig benommen.
»Alles gut bei Ihnen?« Frau Pan war am Tisch aufgekreuzt, verbeugte sich und lächelte ihr bezauberndes asiatisches Lächeln. Sie war immer zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle. Womöglich bedingt durch einen sechsten Sinn, der sie, jenseits der normalen menschlichen Wahrnehmung, spüren ließ, dass ihre Hilfe benötigt würde. Soll heißen: Vinzi bestellte noch ein Bier und Plotek widerwillig ein stilles Wasser.
Jetzt erst bemerkte Plotek am Nebentisch die beiden Lehrer der Schulklasse. Sie schienen in eine intensive Diskussion verstrickt zu sein. Kein Wunder, war es doch für sie nicht einfach, die Schulklasse, die durch den Vorfall völlig durch den Wind war, in den Griff zu kriegen. Ganz offensichtlich waren die Pauker total überfordert und überlegten, ob sie den Aufenthalt in Sils Maria vorzeitig abbrechen oder doch bis zum Ende bleiben sollten.
Davon wird die Tote auch nicht mehr lebendig, dachte Plotek. Und dann: Genießt das Leben! Der Tod behelligt einen früh genug.
Die Frage, ob die jungen, zarten Seelen Schaden genommen hatten, trieb die beiden Lehrer vermutlich am meisten um. Vielleicht auch die Angst vor den Eltern, die ihnen mit allerlei Vorwürfen – von »unverantwortlich« bis »pädagogisch zweifelhaft« – nach der Rückkehr die Hölle heiß machen könnten. Doch wer in Counter-Strike-Ballereien geübt ist und andere Schüler bis aufs Blut mobbt, wer auf seinem Handy brutale Schulhofschlägereien und Vergewaltigungsszenarien aufzeichnet und anschließend damit prahlt, als hätte er eine Eins in Mathe, dem schadet so eine unschuldig aussehende Leiche, auch wenn sie nackt ist, keineswegs. Das war zumindest Ploteks Einschätzung bezüglich der Seelen. Die Lehrer blickten zu Plotek herüber und schienen dabei noch nachdenklicher zu werden. Vielleicht hatten sie seine Gedanken gelesen und fragten sich jetzt, ob auch ihre Schüler zu derartigem Verhalten fähig waren. Oder ob das immer nur die anderen waren. Die aus den großen, hässlichen Städten, aus den bildungsfernen Schichten, vermutlich mit Migrationshintergrund.
Womöglich war es aber gar nicht die Seelenlage ihrer Schülerinnen, die die beiden Lehrer jetzt so einnehmend beschäftigte und die Röte auf ihre Wangen zauberte. Vielleicht war es auch das kleine Geheimnis, das die
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