Silver Linings (German Edition)
dabeihabe, und nehme das gerahmte Foto von Nikki heraus. Ich zeige es Tiffany, und dann geht sie rüber zu der Stereoanlage hinter der Wendeltreppe. Von einem Eisenhaken an der Wand nimmt sie einen Kopfhörer – die Sorte, die die ganzen Ohren bedeckt wie Ohrenschützer – und bringt ihn mir. Er hat ein sehr langes Kabel.
«Setz dich», sagt sie. Ich lasse mich auf den Boden nieder und sitze dann mit verschränkten Beinen da. «Ich spiel dir jetzt unseren Song vor, zu dem wir tanzen werden. Es ist wichtig, dass du eine tiefe Verbindung zu dem Song spürst. Er muss dich bewegen, wenn er durch deinen Körper fließen soll. Ich hab den Song nicht ohne Grund ausgesucht. Er ist perfekt für uns beide, wie du gleich sehen wirst. Ich möchte, dass du in Nikkis Augen schaust, wenn ich dir den Kopfhörer aufgesetzt habe. Ich möchte, dass du den Song fühlst. Verstanden?»
«Es ist hoffentlich kein Stück von einem Sopransaxophonisten, oder?», frage ich, weil Kenny G meine Nemesis ist, wie ihr wisst.
«Nein», sagt sie, und dann setzt sie mir den Kopfhörer auf. Meine Ohren sind umhüllt von Schaumstoff. Mit dem Kopfhörer habe ich auf einmal das Gefühl, allein in diesem großen Raum zu sein, obwohl Tiffany da sein wird, wenn ich aufblicke. Ich halte das Foto in den Händen und sehe in Nikkis Augen, und dann fängt der Song an.
Klavierklänge – langsam und traurig.
Zwei Stimmen singen abwechselnd.
Schmerz.
Ich kenne den Song.
Tiffany hatte recht. Der Song ist perfekt für uns beide.
Der Song kommt in Fahrt, die Stimmen werden emotionaler, und mir tut auf einmal alles in der Brust weh.
Die Worte drücken genau aus, was ich seit meiner Entlassung von dem schlimmen Ort empfinde.
Und als der Refrain einsetzt, schluchze ich schon, denn die Frau, die da singt, scheint genau das zu empfinden, was ich empfinde, und ihre Worte und ihr Gefühl und ihre Stimme …
Der Song endet mit denselben traurigen Klavierklängen, mit denen das Stück begonnen hat. Ich blicke auf und merke, dass Tiffany mir beim Weinen zugesehen hat, und ich werde verlegen. Ich lege das Foto von Nikki auf den Boden und bedecke das Gesicht mit den Händen. «Entschuldige. Geht gleich wieder.»
«Es ist gut, dass der Song dich zum Weinen bringt, Pat. Jetzt müssen wir die Tränen nur noch in Bewegung umsetzen. Du musst durch den Tanz weinen. Verstehst du?»
Ich verstehe nicht, nicke aber trotzdem.
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Die Montage meines persönlichen Films
Es wäre schwierig, genau zu erklären, wie ich Tiffanys Choreographie lernte und ein großartiger Tänzer wurde – hauptsächlich, weil unsere Proben lang und anstrengend und extrem langweilig sind. Wir üben dieselben kleinen Details wieder und wieder, ohne Ende. Wenn ich zum Beispiel für den Tanz einen Finger in die Luft heben müsste, würde Tiffany mich das jeden einzelnen Tag zigmal wiederholen lassen, bis ich es auf Kommando genau so könnte, wie es ihr gefällt. Daher erspare ich euch die meisten langweiligen Einzelheiten. Um alles noch komplizierter zu machen, hat Tiffany mir untersagt, unsere Proben auf irgendeine umfassende Art zu dokumentieren, weil dann andere vielleicht ihre Trainingsmethoden stehlen könnten. Da sie irgendwann mal ein Studio aufmachen möchte, hütet sie ihre Methoden und auch ihre Choreographie wie ein Geheimnis.
Als ich anfange, diesen Teil zu schreiben, fällt mir zum Glück ein, wie sie das in den Rocky-Filmen immer machen, wenn sie zeigen wollen, dass Rocky ein besserer Boxer werden muss. In kurzen Szenen ist dann zu sehen, wie er mit einem Arm Liegestütze macht, am Strand läuft, auf Rinderhälften eindrischt, die Treppe zum Kunstmuseum hochläuft, Adrian liebevoll anschaut oder von Mickey oder Apollo Creed oder sogar Paulie angebrüllt wird – während die ganze Zeit der Titelsong läuft, der vielleicht der beste Song der Welt ist, «Gonna Fly Now». In den Rocky-Filmen genügen ein paar Minuten, um wochenlanges Training darzustellen, und trotzdem begreifen die Zuschauer, dass allerhand Arbeit erforderlich war, um aus Rocky einen großartigen Boxer zu machen, obwohl wir nur in ein paar Szenen zu sehen kriegen, wie der italienische Hengst ackert.
In einer Therapiesitzung frage ich Cliff, wie diese Filmtechnik heißt. Er muss seine Frau Sonja übers Handy anrufen, doch sie weiß die Antwort und sagt, dass man das, was ich meine, Montage nennt. Und genau das werde ich im Folgenden machen, die Montage meines persönlichen Films. Vielleicht solltet
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