Silver Moon
Verletzungen und bestrich sie mit einer antiseptischen Heilsalbe. Dann wickelte ich frische Mullbinden um sein Hinterbein.
»Ein paar Tage sollten wir den Verband noch dranlassen. Ich gebe dir jetzt eine Spritze, ein Antibiotikum, damit heilt alles doppelt so gut und bald bist du wie neu!« Er grunzte zufrieden und ich plauderte unbekümmert weiter, während ich die Einwegspritze aus meiner Tasche kramte und sie aufzog. »Eigentlich wollte ich dir gestern nach meiner Arbeit diese Spritze geben, aber ich kam nicht mehr dazu, wir hatten zu Hause einen … Zwischenfall.«
Ich wurde traurig, als ich an den gestrigen Abend und meinen Bruder dachte. Mein Blick war voller Sorge, als ich dem Wolf die Spritze gab, doch er war ganz brav und zuckte nicht einmal dabei, stattdessen sah er mich interessiert an, als wollte er mich auffordern weiterzusprechen. Ich legte die Spritze beiseite, setzte mich neben ihn auf den Boden und begann zu erzählen.
»Es geht um Kai, ihn kennst du, er war gestern bei dir. Kai ist verletzt, ihm geht es sehr schlecht.« Ganz abrupt zuckte der Wolf und hob wissbegierig den Kopf. Ich streichelte ihn und sprach weiter. »Ich habe insgesamt drei Geschwister: Kai, Nino und die kleine Mia. Unsere Mutter ist tot und unser Vater ist ein Tyrann. Er ist alkoholkrank und gewalttätig, er schlägt uns oft … Gestern hat es mal wieder Kai erwischt. Er sollte den Zaun reparieren, hat es aber vergessen. Jedenfalls ist Vater ausgerastet. Er schlug Kai mit einem Rohrstock derart brutal, dass er nun Rippenbrüche hat. Aber noch schlimmer ist, dass Kai mit seinen Verletzungen zu keinem Arzt darf – Vater verbietet es«, erzählte ich bedrückt. Der Wolf setzte sich auf und sah mir in die Augen. Er blickte mich ununterbrochen an und wollte offenbar mehr hören. Ich nutzte diese Gelegenheit, um ihm mein Herz auszuschütten, denn außer meinen Geschwistern hatte ich niemanden zum Reden. Jedenfalls niemanden, dem ich vertrauen konnte, und bei dem Wolf war ich mir sicher, dass er mein schreckliches Geheimnis nicht weitererzählen würde.
»Ich habe Angst vor meinem Vater; ich weiß, wozu er fähig ist«, begann ich zu offenbaren. »Meine Mutter starb vor einigen Jahren. Es war kein gewöhnlicher Tod, sie starb bei der Geburt meines kleinsten Bruders. Es war in der Nacht zum ersten November, und es war eine stürmische Nacht, als bei ihr die Wehen einsetzten. Vater wollte nicht, dass sie in ein Krankenhaus geht. Er war der Meinung, dass sie bei dem fünften Kind die Geburt alleine schaffen müsste. Wenn du mich fragst, ich denke, der wahre Grund war ein ganz anderer. Vater war wieder sturzbetrunken gewesen. Wäre Mutter in eine Klinik gegangen, hätte man erwartet, dass der Mann früher oder später kommt, um das Kind zu bewundern. Aber Vater wollte sich garantiert nicht in seinem besoffenen Zustand in einer Klinik zeigen, deshalb musste Mama in dieser Nacht ohne Hilfe zu Hause bleiben. Als sie starke Blutungen bekam, wollte ich den Notarzt rufen, doch Vater zerschnitt die Telefonleitung. Dann schloss er alle Türen ab; wir waren völlig isoliert. Mia und Nino schliefen und Kai war zu der Zeit auf Klassenfahrt. Ich war alleine mit meiner Mutter und ihr ging es immer schlechter. Sie lag im Bett, hielt meine Hand und sagte mir, dass etwas nicht stimmen würde. Mutter gab mir Anweisungen; ich tat mein Bestes, doch sie blutete so stark und das Baby wollte einfach nicht kommen. Es wurde draußen schon hell, als mein kleiner Bruder endlich auf die Welt kam – aber meine Mutter starb in diesen Sekunden, sie verblutete vermutlich. Ich saß weinend mit dem Säugling auf der Bettkante, als Vater ins Zimmer kam und sah, was geschehen war. Er war nicht traurig oder ergriffen, nein, er tobte vor Wut und schrie. Ich zitterte und drückte das Baby ganz fest an mich. Er kam zu mir und wollte das Bündel aus meinen Armen reißen. Zuerst hielt ich den Kleinen noch ganz fest, aber Vater drosch auf mich ein, er schlug fortwährend auf meinen Kopf, bis ich ihm schließlich das Kind gab«, flüsterte ich und meine Stimme versagte. Ich konnte an dieser Stelle nicht weiterreden, die Worte blieben mir im Hals stecken. Bisher hatte ich nie darüber gesprochen, Vater hatte es verboten. All die Jahre fraß ich den Kummer in mich hinein, aber nun war es befreiend, dem Wolf alles beichten zu können.
»Das Baby … Vater hat es … er hat es an jenem Morgen getötet! Er erstickte den Jungen mit einem Kissen, weil er ihm die Schuld an Mutters Tod
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