Simon Schweitzer - immer horche, immer gugge (German Edition)
War er es oder war er es nicht? Er probierte es mit einem angedeuteten Kopfnicken, welches notfalls auch als ein zufälliges interpretiert werden konnte und ihm somit einen geordneten Rückzug erlauben würde. Das verdreckte Gesicht zwischen den verfilzten Haaren grinste zurück und hob sogar die rechte Hand zum Gruße. Dem Schweitzer-Simon wurde ganz mal au coeur, und zögerlich tat er zwei, drei weitere Schritte. Noch immer war das Erkennen im Entwicklungsstadium, immerhin waren ja zwei Dekaden seit der letzten Begegnung vergangen. Aber die Augen. „Daniel?“
„Mensch Simon, endlich.“
Die Stimme war dieselbe. „Du bist es tatsächlich, Daniel Fürchtegott Meister.“ Aber weiter wußte er nicht. Was sollte man auch sagen? Sein Freund von früher war ein Schatten seiner Selbst, offensichtlich siech an Leib und Seele.
„Natürlich bin ich es, wer sollte ich denn sonst sein? Zwei Mal hast du mir die letzten Tage eine kleine Gabe in den Becher geworfen.“
„Ja, aber warum hast du denn nichts gesagt?“
„Ach, weißt du, den meisten Leuten ist es peinlich, mich zu erkennen oder von mir angesprochen zu werden. Ich bin wohl niemand mehr, mit dem man gesehen werden will.“
„Guntram hat mir gestern erzählt, daß du wieder da bist.“
„Ja, der Guntram, die treue Seele, hat mir sogar einen Schlafplatz angeboten, aber weißt du, nach all den Jahren auf Platte, da brauchst du so was höchstens mal im Winter.“ Daniel nahm den Kaffeebecher und schätzte den Inhalt auf seinen Wert. „Reicht noch nicht. Ansonsten hätte ich dich auf einen Kaffee eingeladen. Ich kann dir höchstens einen Schluck aus meiner Pulle anbieten.“ Er griff unter den fettfleckigen Armeeschlafsack und holte eine in Zeitungspapier eingewickelte Flasche hervor.
„Laß mal.“ Herr Schweitzer schaute auf seine Armbanduhr. Es war um die zwölfte Stunde, und er hatte noch etwas Zeit. Aber nicht viel, der Salate wegen. „Aber ich möchte dich einladen. Wo pflegst du deinen Kaffee zu trinken?“
„Da vorne ist ein Wasserhäuschen. Die verlangen nur sechzig Cent pro Becher. Meinen Wein kaufe ich aber woanders. Ohne Wein ist kein Sein.“
Simon Schweitzer grinste. Ansatzweise hatte sich die alte Vertraulichkeit zwischen ihnen wieder eingestellt. Obwohl der Dreck ihn anekelte, nahm er ohne Zögern den einst grünen Schlafsack auf. Er sah aber zu, daß nur sein Jutebeutel das Hosenbein berührte, wobei er aber den Arm etwas abwinkeln mußte, was ihn sehr anstrengte.
Man setzte sich mit dem Kaffee auf eine Bank in einem Schulhof gegenüber des Wasserhäuschens. Wegen der Schulferien herrschte ungewohnte Ruhe. Eine Linde spendete angenehmen Schatten. Zwei Gärtner des Städtischen Gartenbauamtes beschäftigten sich mit einer schadhaften Ligusterhecke.
„Ja Daniel, jetzt erzähl mal, wie es dir die ganzen Jahre so ergangen ist. Das letzte, was ich von dir gehört habe, stammte von einer Postkarte aus Italien.“
„Das ist schon nicht mehr wahr, das alles.“ Daniel Fürchtegott schlürfte an dem heißen Getränk, und dann erzählte er. Wie er die Schnauze gestrichen voll hatte von diesem Lande. Von der Sinnlosigkeit des Widerstandes, von der Kälte im zwischenmenschlichen Bereich. Und wie er gehofft hatte, in Bella Italia ein neues Glück zu finden, in dem Land, wo die Zitronen blühen, wo man als Anarchist Mensch war und wo die Roten Brigaden eine baldige Wende zum Nochbesseren verhießen. Es hatte sich auch ganz gut angelassen. Er, Daniel, hatte in Umbrien als Olivenarbeiter ein Auskommen gefunden, er beherrschte alles rund um die Olive, von der Ernte bis zur Kaltpressung. Italienisch, mein Gott, du glaubst gar nicht wie einfach das ist. La mia maccina e stata forzata. Und die Bürokratie erst, nie hatte man seinen Ausweis sehen wollen. Von einer Aufenthaltserlaubnis gar nicht erst zu sprechen. Das mußt du dir mal vorstellen, ein Mensch ohne Papiere bleibt ein Mensch. Unvorstellbar so was, hier. Ja, und so ging das fünfzehn Jahre. Deutschland war ein fernes Gebiet jenseits der Alpen. Und Frauengeschichten. Frauen, sag ich dir, bellissima. Kurz vor der Verlobung habe er gestanden, aber das geht selbst in Italien nicht ohne Papiere. Und dann kam der Olivenölskandal. Ein paar Gierhälse hatten der schnellen Lira wegen Motorenöl untergemischt. Ein paar Menschen starben, der Export geriet ins Stocken und Daniels Arbeitgeber mußte entlassen. Er, der Tedesco, war natürlich auch darunter. Na ja, und dann hat er es sich auch selbst
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