Simon Schweitzer - immer horche, immer gugge (German Edition)
ich.“ Es folgte eine weitere Tränenkaskade.
Bertha verdrehte die Augen nach oben und wischte mit energischen Bewegungen den Tresen dort trocken, wo Karin zu Gange war. Man sah ihr die Schwere ihrer Arbeit an.
Als Karin sich unter gütiger Mithilfe ihrer Schwester wieder beruhigt hatte, trat eine unerwartete Stille ein, in der man das Prasseln der Regentropfen gegen die Schaufensterscheibe hören konnte. Obzwar der Sonnenuntergang noch lange nicht abgewikkelt war, hatten die Autos schon die Scheinwerfer eingeschaltet, um das unheimliche Dunkel zu durchdringen. Trotz oder vielleicht gerade wegen der schwachen Dämmerbeleuchtung vermittelte das Weinfaß seinen Gästen ein Gefühl der Geborgenheit, wie man es sonst von einem Wohnzimmer erwartete. Herr Schweitzer verspürte ein Bedürfnis nach Marias Anwesenheit, das ihn selbst zumindest in seiner Intensität überraschte. Vielleicht würde er sie ja heute noch wiedersehen. Er bereute es, nicht in den Frankfurter Hof mitgegangen zu sein. Mit starrem Blick ließ er sich von den munteren Lichtspielen faszinieren, die der Regen auf die Scheibe zauberte.
„Jetzt aber mal ganz ehrlich, Simon. Glaubst du allen Ernstes, daß Guntram etwas mit dem Mord an Klaus-Dieter zu tun haben könnte. Ich meine, ich kenne ihn ja auch, wenn auch nicht so gut wie ihr“, durchbrach Hannelore die melancholische Stille.
„Da muß man sich schon wundern, wen die Polizei so alles verhaftet“, schloß sich Bertha den Worten ihrer Vorrednerin an. „Der Guntram wäre zu so was nie und nimmer fähig. Da verwett ich meinen Arsch drauf.“
Herr Schweitzer drehte seinen Kopf und erblickte drei erwartungsfrohe Augenpaare. Man legte offensichtlich gesteigerten Wert auf seine Meinung. Ja, es war eindeutig sein Tag. Er fühlte sich als maßgeblicher Bestandteil des sozialen Sachsenhäuser Gemeinwesens, und es war klar, daß von ihm nun einige Takte zum Kriminalfall Schwarzbach erwartet wurden.
„Ich glaube, ihr habt recht“, war zwar nichts, mit dem Konfuzius zu glänzen gewußt hätte, aber es traf in seiner Schlichtheit des Pudels Kern.
Ein Nicken ging durch die Runde.
Herr Schweitzer, ganz der mündige Bürger, als den er sich selbst betrachtete, fuhr fort: „Weiß jemand, ob Guntram einen Rechtsanwalt hat?“
Allgemeine Ratlosigkeit.
„Ich kümmere mich morgen drum“, entfuhr es Karin, und Bertha ließ vor Schreck ein leeres Glas fallen.
Das war jetzt nun wirklich erstaunlich, aber möglicherweise verhält es sich tatsächlich so, daß Menschen, die mit den Nerven gar arg herunter sind, oft nur eine Aufgabe brauchen, um sich selbst aus dem Schlamassel herauszuziehen.
„Das ist eine tolle Idee, Schwesterherz“, pflichtete Hannelore bei und erstickte damit jeden Widerspruch im Keim.
Herr Schweitzer, sowieso ein großer Psychologe vor dem Herrn, unterstützte den Genesungsprozeß, indem er sagte: „Jawohl. Ich glaube, Guntram wäre sehr gerührt, wenn er wüßte, daß er Freunde hat, auf die er sich in der Stunde der Not verlassen kann.“
Er war sich im klaren darüber, daß dies jetzt sehr schwülstig geklungen haben mußte, aber Pathos war schon oft ein probates Mittel gegen Niedergeschlagenheit. Und bei Karin schien die feierliche Ergriffenheit ja zu fruchten. „Genau. Gleich morgen mach ich mich an die Arbeit.“
Dann erörterte man noch die Kompetenz einiger Sachsenhäuser Anwaltskanzleien, und am Ende standen derer drei auf einer Liste, die sich Karin Schwarzbach in die Handtasche steckte.
Gegen elf war die Sonne auch offiziell unter den Horizont gerutscht, das Weinfaß hatte sich gefüllt, Karin und Hannelore hatten den Heimweg angetreten, und Herr Schweitzer bestellte wegen des Wetters erneut ein Taxi. Vielleicht würde er Maria ja im Frühzecher treffen.
Maria war natürlich noch nicht da. Aber das hatte Simon Schweitzer auch nicht wirklich erwartet, schließlich zogen sich Geschäftsessen immerfort in unangenehme Längen. Aus der Musikbox, eine Hinterlassenschaft des früheren Pächters, drang die piepsende Stimme eines Hitparadensternchens, das durch die permanente Repetition des gleichen Schwachsinns bereits seelischen Schaden genommen hatte. Ich lieb dich so, und du bist mein. Man kennt das ja.
Der Frühzecher war gut besucht, die schwüle Tropenluft nikotingeschwängert. Am Tresen hatte sich ein Panoptikum Sachsenhäuser Skurrilitäten versammelt, wie es in dieser Zusammenstellung Seltenheitswert besaß. Ganz links knutschte ein Schwulenpärchen, welches als
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