Sind Sie hochsensibel?

hatten, anscheinend von ihren tief sitzenden Persönlichkeitsmerkmalen
geheilt
worden waren. Eines dieser typischen Merkmale war die ererbte Neigung „bei Stress überzureagieren“ oder – mit unseren Worten ausgedrückt – schnell ein hohes Erregungsniveau zu erreichen.
    Wie schon gesagt, finde ich, dass wir dennoch vorsichtig sein müssen, wenn Ärzte unser Persönlichkeitsmerkmal darauf reduzieren, dass wir bei Stress überreagieren. Wer entscheidet denn, wo die Überreaktion beginnt. (Der Ausdruck „ Über erregung“, den ich benutze, steht in Beziehung zu Ihrem eigenen optimalen Erregungsniveau.) Aber wie steht es mit der positiven Seite unserer Eigenschaft und den negativen Seiten einer Kultur, in der ein hohes Maß an Stress normal ist? Wir wurden wohl nicht mit der Neigung geboren, bei Stress überzureagieren, sondern sind lediglich sehr sensibel.
    Auf jeden Fall erörtert Kramer faszinierende gesellschaftliche Fragen im Zusammenhang damit, dass eine Droge in der Lage ist, die Persönlichkeit vollkommen zu verändern. Wie fühlen wir uns bei dem Gedanken, dass wir vielleicht eines Tages Persönlichkeiten wie unsere Kleidung wechseln können? Was geschieht mit unserem Ich-Gefühl, wenn das Selbst so leicht verändert werden kann? Ein Medikament wird konsumiert, wenn es den Leuten eigentlich nicht schlecht genug geht, um sie als krank zu bezeichnen – sie wollen sich nur irgendwie anders fühlen. Inwiefern unterscheidet sich das von Straßendrogen? Wird jeder ein Medikament wie Fluctin® nehmen müssen und dann vielleicht Super-Fluctin®, nur damit eine hohe Stress-Toleranzgrenze erreicht wird, um mithalten zu können? Kramer stellt die entscheidende Frage: Was würde in einer Gesellschaft verloren gehen, wenn jeder solche Drogen konsumieren könnte?
    Wenn Sie ein typischer HSM sind, werden Sie gerne sowohl über diese Fragen als auch über persönliche Gründe nachdenken wollen, wenn Sie vor der Entscheidung stehen, ob Sie sich SSRI verschreiben lassen sollten.
    Serotonin und HSM
    Es ist schwierig im Detail zu sagen, warum Serotonin so wichtig ist. Es funktioniert als Neurotransmitter an vierzehn verschiedenen Stellen im Gehirn. Peter Kramer meint, dass Serotonin wie diePolizei funktioniert. Wenn also reichlich Serotonin vorhanden ist, ist es so, als ob genügend Polizeistreifen unterwegs sind. Dann ist es überall sicher und die Lage ist unter Kontrolle. Der erfolgreiche Einsatz der Neurotransmitter unterscheidet sich aber in den verschiedenen Gehirnregionen voneinander. Wenn ein Teil des Gehirns eine depressive Verstimmung auslöst, beendet Serotonin diese in ähnlicher Weise, wie es die Polizei bei kriminellen Verstößen tut. Es überwacht den geregelten Verkehr im Gehirn und verhindert zwanghaftes und perfektionistisches Verhalten. Um die Analogie noch weiter voranzutreiben: Ein einzelner Schatten in einer finsteren Gasse würde bei diesem riesigen Polizeiaufgebot nicht mehr so gefährlich erscheinen. Für HSM würde das eine große Veränderung bedeuten, da sie ja einen sehr ausgeprägten Drang zur Achtsamkeit haben. Das funktioniert aber nur dann, wenn mehr Serotonin – sprich ein größerer Polizeieinsatz – auch tatsächlich diese Wirkung hätte.
    Als ich über die Fälle in
Glück auf Rezept
gelesen hatte, wunderte ich mich, wie viele von Kramers Patienten HSM waren, die ihren Wesenszug nicht zu schätzen wussten und es nicht verstanden, auf sich selbst in einer weniger sensiblen Gesellschaft aufzupassen. Als Ergebnis davon waren sie chronisch übererregt, ihr Serotoninspiegel war sehr niedrig und Fluctin® half. Ziehen Sie einmal die anderen Probleme in Erwägung, die Kramer durch die Einnahme von Fluctin® gelöst sah: zwanghaftes Verhalten (ein übereifriges Bestreben, Angst und Übererregung unter Kontrolle zu bringen?), ein schwaches Selbstwertgefühl und Empfindsamkeit gegenüber Kritik (weil man zu einer Minderheit gehört, die dazu gebracht wird sich minderwertig zu fühlen).
    Also wann – wenn überhaupt – sollte ein HSM zu SSRI greifen, um seine lang bestehenden Persönlichkeitsmerkmale zu verändern? Es hängt viel von der genauen Beziehung zwischen Serotonin und unserem Wesenszug ab. Leider kann man diese Beziehung noch nicht exakt genug beschreiben. Falls es neue Antworten darauf gibt,