Sind Sie hochsensibel?
angewiesen war. Deshalb habe ich nie darauf bestanden Dinge wie Fahrrad fahren, Rollschuh- oder Eislaufen zu lernen â was für meine Mutter, denke ich, ihrerseits eine Erleichterung war. Daher bin ich stets eher eine neidvolle Beobachterin sportlicher Aktivitäten gewesen als eine aktive Teilnehmerin, aber es hat auch grandiose Ausnahmen gegeben. Dazu gehört ein Erlebnis am Ende einer Sommersonnenwendfeier auf einer Ranch am FuÃe der kalifornischen Sierra:
Bei diesem Fest waren Frauen aller Altersgruppen anwesend. Als sie aber am Abend eine Schaukel fanden, wurde aus ihnen eine Horde junger Mädchen. Die Schaukel hing an einem langen Seil und schwang bis über einen Abhang hinaus. In der Dämmerung sah es aus, als flöge man mit ihr zu den Sternen. So sagten siejedenfalls. Alle hatten es ausprobiert â auÃer mir. Als die anderen ins Haus gegangen waren, blieb ich zurück und beäugte die Schaukel mit dem bekannten Gefühl der Scham ein Angsthase zu sein, obwohl das wahrscheinlich gar keine bemerkt hatte. In diesem Augenblick erschien eine Frau â viel jünger als ich â und fragte, ob sie mir zeigen solle, wie man schaukelt. Ich verneinte und sagte, dass ich nicht schaukeln wolle. Sie ignorierte das einfach und versprach, mir nie mehr Schwung zu geben, als mir angenehm sei. Dann hielt sie mir die Schaukel hin. Es dauerte seine Zeit, aber irgendwie fühlte ich mich bei ihr sicher und fasste immer mehr Mut, bis ich schlieÃlich, wie die anderen, hin zu den Sternen schwingen konnte. Die junge Frau habe ich nie wieder gesehen, aber ich werde ihr ewig dankbar sein â nicht nur für diese Erfahrung, sondern auch für ihr Verständnis und ihren Respekt meinen Gefühlen gegenüber, als sie mir das Schaukeln beibrachte: Stück für Stück, bei jedem Schwung immer nur ein bisschen weiter zu schwingen.
Ihre Schulzeit
Marshas Erinnerungen an ihre Schulzeit sind typisch für HSM. Sie war sehr gut in der Schule und sogar eine Art Anführerin, wenn es um Vorhaben und Ideen ging. Sie langweilte sich aber auch. Ihr ruheloser Geist brachte sie dazu, während des Unterrichts Bücher zu lesen. Und dennoch war sie immer noch die Cleverste unter den Schülern.
Obwohl sie auch schnell gelangweilt war, machte ihr vor allem die Ãberstimulation in der Schule immer zu schaffen. Am deutlichsten erinnert sie sich an den Lärm. Er flöÃte ihr zwar keine Angst ein, aber er erschien ihr unerträglich, besonders, wenn die Lehrperson das Klassenzimmer verlieÃ. Auch der Radau daheim, wo acht Leute in einem winzigen Haus wohnten, zerrte an ihren Nerven. Bei gutem Wetter versteckte sie sich in den Bäumen oder unter dem Hauseingang und las Bücher. Bei schlechtem Wetter lernte sie, während des Lesens alles Störendeauszublenden. Es kann jedoch schwierig sein in der Schule nervliche Ãbererregung zu vermeiden. Eines Tages las eine Lehrkraft einen Zeitungsbericht über die grausamen Folterungen einiger Kriegsgefangener laut vor und Marsha wurde ohnmächtig.
Als Sie in die Schule kamen, betraten Sie wie Marsha erstmals die groÃe, weite Welt. Es kann sein, dass Sie schon die Trennung von daheim als einen ersten Schock empfanden. Doch selbst wenn Sie darauf vorbereitet waren, weil Sie vorher den Kindergarten besucht hatten, konnten Ihre Sinne niemals auf den langen, lauten Vormittag in einer ganz normalen ersten Gundschulklasse vorbereitet sein. Im besten Fall arbeiteten Ihre Lehrer mit einer Auswahl von Reizen, die sich für das optimale Erregungsniveau durchschnittlicher Schüler eignen. Ihr Maà wurde dabei allerdings fast immer überschritten.
Wahrscheinlich sind Sie anfänglich mit der Schule nur fertig geworden, weil Sie sich zurückzogen und bloà beobachtet haben. Ich erinnere mich gut an den ersten Schultag meines Sohnes. Er stellte sich in die Ecke und starrte vor sich hin, als ob es ihm die Sprache verschlagen hätte. Sich so zu verhalten ist aber nicht
normal
, deshalb sagte die Lehrkraft: âDie anderen spielen doch auch â warum nicht du?â Um der Lehrkraft nicht zu missfallen oder als komisch abgestempelt zu werden, haben Sie möglicherweise Ihr Widerstreben überwunden â oder es vielleicht auch nicht geschafft. Wie auch immer, man zollte Ihnen immer mehr Aufmerksamkeit und das war genau das, was Sie nicht gebrauchen konnten.
Jens Asendorpf vom Max Planck Institut
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