Sind wir bald da
plaudernde Gesichter starre.
Es ist halb neun. Veranschlagte Hinrichtungszeit.
Der DJ hört zu spielen auf, ich erklimme in der nun herrschenden Totenstille das Schafott, nehme an einem Tischchen Platz und klammere mich an ein Glas Rotwein. Das Buch, aus dem ich lesen wollte, habe ich natürlich vergessen. Echter Profi eben. Ich fische mir ein Exemplar aus meinem Rucksack und beginne nach ein paar flapsigen Bemerkungen, mit zittriger Stimme und sehr unentspannt daraus vorzulesen. Nach dem ersten Kapitel ist sich das Volk noch uneins, ob es mich rädern oder vierteilen soll. Nach dem zweiten Kapitel überlegt der Pöbel, ob langsames Foltern nicht zielführender wäre. Nach zwei weiteren Kapiteln samt hilflos gestammelten Zwischenmoderationen scheint man langsam zu der Auffassung zu gelangen, dass es unterhaltsamer ist, den Delinquenten länger leben zu lassen, um sich an seinem Leiden zu ergötzen, bevor man ihn ungezwungen abmurkst. Wie schön! Ich werde nur ausgepeitscht und erst dann ausgeweidet. Kein schöner, schneller Tod, dafür ein längeres Leben. Immerhin.
Ich lese und plappere um mein unwürdiges Leben. Noch vor Beginn der Pause scheint eine Depesche vom Bischof eingelangt zu sein, wonach ich zu begnadigen sei, damit ich auch für spätere Volksfeste Verwendung finde. Am nächsten Baum aufknüpfen könne man mich Spitzbuben immer noch irgendwann. Ich jauchze! Ich darf weiterleben. Es gibt Wunder! Vom Alkohol gepusht, bilde ich mir sogar ein, die blutrünstige Meute könnte mich mögen. Zu Beginn der zweiten Hälfte wird hemmungslos gekichert, später wird sogar gelacht, und am Ende bricht Applaus über mich herein. Ich singe »Großer Gott, wir loben Dich« und beschließe, ausgiebig zu trinken und zu rauchen.
Von den geschätzten zehn Menschen, mit denen ich anschließend über die Texte und meine Performance spreche, gibt es zehn unterschiedliche Meinungen dazu, was gut und weniger gut gewesen sei. Wahrscheinlich muss man einfach nur auf sich selber hören und das tun, was man gut findet.
Ich fände es zum Beispiel gut, als einer der Letzten das Lokal zu verlassen und doch rechtzeitig schlafen zu gehen, damit ich morgen einen frühen Zug nach Wien erwische. München ist nett. Aber alleine, bei schlechtem Wetter und mit einem Koffer in der Hand ist jede Stadt auch ein bisschen mühsam. Darum lieber nach Hause.
Im Zug lese ich im Spiegel , dass der Markt für Lebensratgeber boomt — geschrieben von einem Professor für Philosophie. Was er uns genau sagen will, verstehe ich nicht, aber am Beispiel von Sokrates wird demonstriert, dass Lebensberatung ein ziemlich altes Gewerbe ist. Nein... nicht möglich. Beschäftige ich mich also schon die ganze Zeit mit denselben Fragen wie der große Sokrates?
Montag, 18. Mai
In einem Interview anlässlich der neuen Platte von Depeche Mode lese ich, dass deren Songwriter Martin Gore seit etwa drei Jahren keinen Alkohol mehr trinkt. Sapperlot. Erst der Sänger, der keine Drogen mehr nimmt, jetzt der Songwriter ohne Alkohol. Was ist denn da los? Ich kann mich jetzt nicht einmal mehr auf meine ehemaligen Idole berufen, wenn ich ein Lotterleben führe. Ist das schon wieder ein Zeichen vom Universum?
Ich meine das nicht einmal zynisch, wirklich nicht! Ich habe mir öfters schon gedacht, dass Alkohol ganz schön viel Energie verbrennt. Er bringt zwar viel Entspannung und Ablenkung, das tun große Urlaubsreisen in Luxushotels in Dubai aber auch. Und nicht anders als Alkohol kosten sie auch richtig was. Geld ist aber auch nur eine Form von Energie. Insofern ist es wurscht, ob man nach Dubai fliegt oder sich beim Wirten ordentlich ansäuft. Hat beides seine Richtigkeit, man sollte sich nur bewusst machen, was man da tut. Und möglicherweise hält einen das Leben in der Stadt (also ein Leben mit Alkohol, Zigaretten, viel Weggehen, Fernschauen und lauter Musik) davon ab, ausgeglichen und glücklich zu sein. Muss ja einen Grund geben, warum Menschen auf der Suche nach sich selbst und der Vollkommenheit zu Einsiedlern werden. Oder warum Millionäre zu bekennenden Buddhisten werden. Oder werden nur Buddhisten zu bekennenden Millionären?
Also, man muss schon relativ rund und zufrieden mit sich sein, dass das Geld zu einem kommt. Ich meine, das Geld ist ja auch nicht blöd und haut sich mit jedem auf ein Packl . Das Geld kommt vielmehr nur in Ausnahmefällen zu ausgesuchten Idioten. Beim Lotto zum Beispiel. Dort haut es dann aber auch relativ flott wieder ab. Die meisten
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