Sine Culpa
die Stadt fahren?«
»Ich kann gut Kaffee kochen, ehrlich.«
»Prima.« Es half immer, jemandem konkrete Alternativen anzubieten. »Ich hab Kekse im Auto.«
Sein Gesicht hellte sich auf.
Die Küche war nicht so aufgeräumt wie bei ihrem ersten Besuch. Schmutziges Frühstücksgeschirr stapelte sich in der Spüle, und auf dem Tisch standen noch die benutzten Teetassen. Nightingale graute vor Olivers Kaffee, aber er bereitete ihn sorgfältig zu. Sie stellte ihre erste Frage, als er nach den Keksen griff.
»Hast du CrimeNight gesehen?«
Sein Gesicht verriet deutlich, dass er sich die Sendung angeschaut hatte, und sie sprach schnell weiter.
»Es haben sich viele Leute gemeldet, die Bryan Taylor kannten, und manche haben sogar gesagt, dass er sie angefasst hat.«
Die Bemerkung brachte die erwartete Wirkung: Olivers Wangen glühten vor Scham.
»Du hast nicht angerufen, oder?«
»Ich? Nee.« Er schüttelte den Kopf, und Kekskrümel rieselten auf sein Hemd.
»Schade. Am Telefon wäre es dir bestimmt viel leichter gefallen, so manches zuzugeben.«
»Was denn zugeben?«
»Zum Beispiel, dass du einer von Taylors … Freunden warst. Ich bin sicher, das war Jahre vor Pauls Verschwinden. Ein starker Mann wie du wächst schneller. Wahrscheinlich war es schon lange vorbei, als du das brennende Auto gesehen hast. Hab ich Recht?«
Oliver hatte alles Interesse an den Keksen verloren und starrte unglücklich auf seine gefalteten Hände.
»Weißt du, eigentlich brauchst du mir gar nicht viel zu erzählen. Das Wichtigste weiß ich schon. Es geht nur noch um ein paar Kleinigkeiten.«
»Wie habt ihr das rausgefunden?«, fragte er arglos. Nightingale unterdrückte jedes Anzeichen von Triumphgefühl. Jetzt hatte sie ihn.
»Die Polizei hat so ihre Methoden, um Sachen rauszufinden, das ist unser Job. Aber wenn wir Sachen indirekt erfahren …« Sie beschloss, den Satz umzuformulieren. »Aber wenn du uns nicht selbst erzählst, was passiert ist, kann es vorkommen, dass wir uns eine falsche Meinung bilden, und das wäre nicht gut für dich.«
»Wieso nich?« Seine Stimme war ein quiekendes Flüstern, und sie musste ein störendes Mitleidsgefühl unterdrücken.
»Weil Menschen grausam sein können. Sie sagen Dinge, die nicht ganz wahr sind – zum Beispiel, dass dir das, was du für Bryan getan hast, Spaß gemacht hat.«
»Stimmt nich!« Oliver knallte die Faust auf den Tisch und die Tassen hüpften.
»Was stimmt nicht, Oliver?«, fragte Nightingale sanft und hielt die Luft an.
»Es hat mir keinen Spaß gemacht. Nie.« Er sah sie aus den Augenwinkeln an und atmete langsam aus.
»Das hab ich auch nicht geglaubt. Aber vielleicht lieg ich ja bei anderen Sachen schief, und deshalb musst du mir so viel wie möglich erzählen.«
Er schloss die Augen und schüttelte den Kopf.
»Möchtest du vielleicht lieber, dass ich dir Fragen stelle? Dann musst du einfach nur ja oder nein sagen. Aber ich muss mir ein paar Notizen machen. Das stört dich doch nicht, oder?«
Oliver schüttelte erneut den Kopf und starrte aus dem Küchenfenster. Ein entsetzlich trauriger Ausdruck erfasste sein Gesicht.
»Also gut. Du warst zwölf Jahre alt, als Bryan und du Freunde wurdet, richtig?«
»Zehn.« Sein Blick wanderte nach unten auf seine geballten Fäuste. »Er hat unsere Scheune repariert. Ich hab ihm immer was zu trinken gebracht, ohne zu kleckern.«
»Und wann hat Bryan angefangen«, sie stockte, suchte nach den richtigen Worten, »dich zu berühren?«
»In derselben Woche«, Oliver seufzte schwer. »Er hat gesagt, ich wär was Besonderes. Das müsste unser Geheimnis bleiben. Keiner hat je gesagt, ich wär was Besonderes, nur Mum, und das zählt doch nich.«
»Es tut immer gut, wenn einem jemand so etwas sagt. Bryan war bestimmt sehr nett zu dir?«
Oliver lächelte. Es war so anrührend, dass Nightingale wegsehen musste.
»Er konnte Zaubertricks. Einmal hat er ein Ei aus meinem Ohr gezaubert, ein richtiges Ei!« Die Magie dieses Augenblicks schwang noch immer in seiner Stimme mit. »Wir waren Freunde.«
»Natürlich, das wart ihr, aber er wollte mehr sein als nur dein Freund, nicht?«
Oliver nickte wortlos.
Nightingale hielt ihm die Kekse hin. Er griff automatisch nach einem, aber dann zerkrümelte er ihn nur. Schließlich nahm Nightingale ihm die Reste aus der Hand.
»Hat Bryan dich angefasst?«
Ein Nicken.
»Hat er dich im Intimbereich angefasst?«
Die Augen halb geschlossen, wieder ein Nicken, kaum wahrnehmbar, die Wangen
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