Sine Culpa
drückte den Knopf für den dritten Stock. Sie tat es ihm nach, obwohl der Knopf schon leuchtete.
Die Frau gehörte zu den Menschen, die einem im Fahrstuhl zu nah auf die Pelle rücken. Sie war Stock irgendwie unangenehm. Er schielte unauffällig zu ihr hinüber und musterte ihr Profil. Ihre Lippen zuckten, als murmelte sie lautlos etwas vor sich hin. Man konnte richtig das Gruseln kriegen, und er machte unbewusst einen Schritt von ihr weg. Sie registrierte die Bewegung, wandte den Kopf, und blickte ihm voll ins Gesicht. Der Schreck des Wiedererkennens überrumpelte ihn. Was machte Sarah Hill hier, wo er doch gerade gelesen hatte, dass sie keine lebenden Verwandten und nur wenige Freunde hatte?
Als die Fahrstuhltüren aufglitten, wartete er einen Moment und ließ sie vorgehen. Irgendetwas, vielleicht so etwas wie Polizisteninstinkt, obwohl der ihm von Kollegen so oft abgesprochen wurde, bewirkte, dass er ihr in einem unauffälligen Abstand folgte, während sie zur Auskunft schlurfte.
»Ich möchte bitte zu Major Maidment«, sagte sie mit einer recht normalen Stimme.
»Dort entlang, Ma’am. Das Zimmer auf halber Höhe links.« Sarah Hill wandte sich grußlos ab und ging weg.
Stock blieb ihr auf den Fersen und verfluchte insgeheim sein Pech, dass diese Irre ausgerechnet in seiner Schicht auftauchen musste, um seinen Verdächtigen fertigzumachen.
Mrs. Hill blieb am Fußende des Bettes stehen, und der Major blickte auf.
»Mrs. Hill.« Seine Stimme war ruhig, doch Stock konnte deutlich das Entsetzen in seinen Augen sehen. »Guten Tag. Bitte, nehmen Sie doch …«
»Sprechen Sie mich nicht an, Sie abscheulicher alter Mann.« Ihre Stimme war leise, aber trotzdem schauten Besucher auf beiden Seiten zu ihr herüber. »Sie haben meinen Jungen getötet, aber die lassen Sie laufen! Es gibt keine Gerechtigkeit auf der Welt.«
Die Worte wurden jetzt lauter, und eine Krankenschwester kam vom hinteren Ende des Raumes näher.
»Ich hab ihn nicht getötet, Sarah. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort.«
»Lügner! Mein Junge ist tot, Ihretwegen. Aber Sie sitzen hier und werden umsorgt und genießen das Leben. Das ist nicht richtig!«
»Sarah.« Der Major hievte sich mühsam aus dem Sessel hoch und streckte flehend eine Hand aus.
»Paul ist tot, und Sie sind schuld!«, schrie sie. »Sie sind ein böser alter Mann, ein Perverser, und Sie haben den Tod verdient!«
Stock hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen, hielt sich aber zurück, weil er die Situation nicht noch schlimmer machen wollte. Dann aber trat er doch an die andere Seite des Bettes und sagte mit bemühter Autorität in der Stimme: »Mrs. Hill, jetzt wollen wir uns doch alle erst mal beruhigen, ja?«
Sie hörte ihn gar nicht, schluchzte, rang nach Luft und wollte gleichzeitig sprechen. Als sie nervös in ihrer Tasche kramte, dachte Stock, sie suche nach einem Taschentuch. Der unerwartete Anblick einer zwölf Zentimeter langen Stahlklinge verschlug ihm die Sprache, und er erstarrte.
Mrs. Hill stach wild nach Maidment, halb blind vor Tränen und Wut. Das Messer verfehlte sein Ziel, doch sie sprang vor, und der Major konnte nicht ausweichen. Er saß im Bett, hinter sich eine Wand, vor sich eine Verrückte. Er warf sich nach hinten, so weit er konnte. Die Klinge zischte an seiner Wange vorbei und durchschnitt den Venentropf, der in seinen Arm führte. Er packte den Ständer, an dem der Beutel mit der Kochsalzlösung hing, um damit den nächsten Hieb abzuwehren und sie wegzustoßen. Aber sie wich seitlich aus und stach auf seine ungeschützte Seite ein. Die Messerspitze bohrte sich in seinen Arm, glitt ab und erwischte ihn dann wieder an der Schulter. Sarah Hill holte erneut aus, und diesmal zielte sie auf seinen ungeschützten Hals. Stock erwachte aus seiner Erstarrung, hechtete quer über das Bett und umschlang ihre Taille, als sie gerade zustoßen wollte. Er hielt sie mit einem Arm fest und versuchte, mit der anderen Hand das Messer zu fassen. Der Major kam ihm zuvor und entwandt es ihren Fingern.
»Rufen Sie meine Kollegen«, brüllte Stock, während er die wild strampelnde Frau mühsam fest hielt. »Ich brauche Hilfe.«
»Stock?«, sagte Cooper ungläubig. »Stock hat dem Major das Leben gerettet? Nicht zu fassen.«
Er war nicht der Einzige, der so reagierte, als sich die Geschichte im Präsidium herumsprach. Keiner wollte glauben, dass William Stock den Mumm besessen hatte, eine messerschwingende Angreiferin zu entwaffnen. Selbst seine Kumpels fanden
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