Sine Culpa
dass er schon immer ein ganz Stiller war. Als er diesen Zusammenbruch hatte, waren wir absolut erschüttert – wir hatten keine Ahnung, dass es so schlimm um ihn stand.
Bei seiner Einlieferung wurde er gründlich untersucht, und die Ärzte stellten fest, dass er missbraucht worden war. Ich hab ihnen gesagt, dass es in der Vergangenheit Vorkommnisse gegeben habe, dass das aber vorbei war. Das Problem war, dass ich es nie gemeldet hatte und Arthur nichts davon wusste. Unser Hausarzt war ein alter Freund, mit meiner Schwägerin verheiratet, und als er mir sagte, dass Oliver sexuell missbraucht worden war, hab ich ihn angefleht, Stillschweigen zu bewahren und Olivers Dad nichts davon zu sagen. Er wusste, dass wir unserem Ollie niemals so etwas antun würden, deshalb hat er geschwiegen, und ich habe es nie der Polizei gemeldet, was ich hätte tun sollen.«
»Wenn Sie den Mut gehabt hätten, es Ihrem Mann und der Polizei zu erzählen, dann könnten Paul Hill und Malcolm Eagleton heute noch leben!« Nightingale sah die Bilder der beiden Jungen vor sich, wie sie in die Kamera grinsten. »Es ging nicht nur um Ihre Familie.«
»Meinen Sie, heute wüsste ich das nicht? Aber damals wollte ich bloß meine Familie schützen, das war das Einzige, worum es mir ging. Vielleicht wäre das Jugendamt eingeschaltet worden, und die hätten Arthur beschuldigt und uns Ollie und meine beiden anderen Jungs weggenommen. Das hätten sie ja auch beinahe, später, als er nach Pauls Verschwinden in die Klinik kam.« Sie drückte die Zigarette aus und zündete sich eine neue an.
»Reden Sie weiter.«
»Als sie herausfanden, dass er missbraucht worden war, hat Arthur sich mit den Ärzten angelegt und gesagt, das wäre unmöglich. Wie sich herausstellte, war das ein Riesenfehler. Das Jugendamt hat sich an die Polizei gewandt, und die haben gegen ihn ermittelt.« Ihre Stimme bebte, aber sie war aus härterem Holz geschnitzt als ihr Sohn, und ihre Augen blieben trocken.
»Es war furchtbar. Oliver stand noch unter Medikamenten, deshalb konnte er nichts sagen, um uns zu helfen. Es waren schreckliche Monate. Dann ging es Oliver allmählich besser, und er fing eine Psychotherapie an. Dabei kam dann die Geschichte mit Taylor heraus. Wir wurden nicht mehr verdächtigt, und als es meinem Sohn wieder gut ging, durfte er zu uns nach Hause.
Ich muss leider zugeben, dass ich während dieser Zeit überhaupt nicht an Paul gedacht habe. Wir steckten in unserem eigenen Albtraum fest, und ich hatte keine Kraft übrig, um noch an andere zu denken. Als Oliver dann wieder zu Hause war, haben wir nie mehr über das alles gesprochen. Wir haben gehofft, er würde Taylor vergessen.«
»Aber das hat er natürlich nicht! Er hat es nur unterdrückt, weil Sie ein Tabuthema draus gemacht hatten. Selbst heute geht es ihm nicht richtig gut, oder? Er braucht eine anständige psychologische Betreuung.« Nightingales Tonfall war schroff.
Mrs. Anchor sah sie trotzig an.
»Es geht ihm gut. Er kommt mit der Welt zurecht, und wir sind für ihn da. Es gibt nichts, was ihm fehlt.«
»Außer Freunden in seinem Alter und vielleicht sogar einer Beziehung zu einer Frau«, sagte Nightingale unverblümt.
»Sie haben kein Recht, hier aufzutauchen und vorschnelle Urteile zu fällen, Miss Nightingale. Sie haben bekommen, was Sie haben wollten, nun tun Sie nicht so, als läge Ihnen etwas am Wohlergehen meines Sohnes. Er ist unser Problem, nicht Ihres, und wir gehen damit so um, wie wir es für richtig halten.«
»Aber er braucht Hilfe, Mrs. Anchor, vor allem jetzt, wo er es endlich geschafft hat, sich den Dingen zu stellen. Das war sehr tapfer von ihm.«
»Sie sind Polizistin, keine Ärztin. Lassen Sie uns in Ruhe.«
»Er wird eine umfassende Aussage auf dem Präsidium machen müssen. Werden Sie ihn hinbringen, oder soll ich ihn jetzt mitnehmen?«
Mrs. Anchor starrte sie trotzig an, aber sie wusste, wann sie verloren hatte.
»Ich bringe ihn selbst hin.«
»Und falls Sie versuchen, ihn zu beeinflussen, nehme ich Sie wegen Behinderung der Justiz fest. Und ich werde auf eine Freiheitsstrafe drängen. Wer soll sich dann um Ihren Jungen kümmern, Mrs. Anchor?«
Nightingale stand auf, um zu gehen. Sie versuchte, ihren Zorn zu beherrschen und ein wenig Mitgefühl für die Frau aufzubringen, doch Mrs. Anchor musste das letzte Wort haben.
»Sie sollten sich mal fragen, warum die Polizei damals nicht mehr getan hat, um Taylor zu finden. Sie hatten jede Menge Hinweise, dafür hatte
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