Sine Culpa
oben, aber er überging sie. Darunter war eine Zusammenfassung der Ermittlungen im Fall Paul Hill. Sie war nicht lang, und er kannte sie schon fast auswendig, aber schlug sie trotzdem auf, suchte nach neuen Erkenntnissen.
Paul Hill war am ersten Schultag nach den Ferien verschwunden. Nach der letzten Stunde hatte er sich, ohne sich von seinen Freunden zu verabschieden, auf sein neues Rennrad geschwungen und war zur Stadt hinausgefahren. Um acht Uhr abends hatte seine Mutter die Polizei alarmiert, zu früh, um ernst genommen zu werden. Die Suche wurde erst um zehn Uhr eingeleitet. Polizisten sprachen mit einigen seiner Freunde, die meinten, Paul wäre möglicherweise zum Beecham’s Wood gefahren, wo schließlich auf einem unbefestigten Parkplatz Fahrradspuren und eine Blutlache entdeckt wurden, aber mehr nicht.
In den Tagen darauf durchkämmten über einhundert Polizisten und Freiwillige den Wald, jedoch ohne Erfolg. Man weitete das Suchgebiet aus, sprach mit Nachbarn, Pauls Lehrern und Schulkameraden. Achtzig Beamte waren schließlich mit der Suche nach Paul Hill beschäftigt, und ein Chief Superintendent übernahm von dem damaligen Inspector Quinlan die Leitung der Ermittlungen.
Fotos von Paul, einem engelsgleichen Jungen, der jünger aussah, als er war, erschienen in allen Medien, und sofort meldeten sich die Ersten, die ihn angeblich gesehen hatten, und zwar in so weit auseinanderliegenden Städten wie Brighton, Cornwall, Edinburgh, Birmingham und natürlich auch London. Jede einzelne Meldung musste ernst genommen werden, und landesweit wurden Polizeikräfte für die Suche nach dem Vierzehnjährigen eingesetzt. Manche Zeugen gaben an, er sei in Begleitung eines Mannes gewesen. Die offizielle Stellungnahme der Polizei lautete, man sei »ernsthaft um Pauls Sicherheit besorgt«. Inoffiziell fürchtete man, wie aus der Akte hervorging, schon nach wenigen Tagen, dass aus einem mutmaßlichen Kidnappingfall eine Mordermittlung werden würde.
Drei Tage nach Pauls Verschwinden stieß die Polizei auf eine lang ersehnte Spur. Die Mutter eines seiner Klassenkameraden, Victor Ackers, schnappte zufällig auf, wie ihr Sohn in seinem Zimmer am Telefon sagte: »Das ganze Getue für diese schwule Tunte. Ich wette, der ist mit Taylor abgehauen.« Auf Nachfrage gab Victor zu, dass er Paul für eine »Schwuchtel« hielt und dass das viele Taschengeld, mit dem er dauernd angab, nicht von irgendwelchen Jobs stammte, wie er behauptet hatte, sondern weil er »der Stricher von irgend’nem alten Sack« war.
Der Verdacht war ihm im Laufe des Sommers gekommen, als Paul sich ein neues Fahrrad kaufte und anfing, seinen Freunden mit schönen glatten Fünf-Pfund-Scheinen Eis und Süßigkeiten zu spendieren. Als ihn dann ein Mädchen zusammen mit Bryan Taylor in Beecham’s Wood sah, wurde aus der Befremdung zunächst ein Gerücht, das dann wie ein Funken, der einen Großbrand auslöst, rasch zur allgemein anerkannten Tatsache wurde. Mit der für Kinder typischen Grausamkeit wurde Paul mal ausgeschlossen, mal verhöhnt, sein Sommer verwandelte sich in eine Hölle der Isolation, und er sah sich immer wieder wüsten Beschimpfungen ausgesetzt.
Victors Enthüllungen lenkten die Polizeiermittlung in eine andere Richtung. Zuerst betrachtete man den Jungen weiter als Kidnapping- beziehungsweise Mordopfer, da man sich nicht von der in der Bevölkerung zunehmend verbreiteten Meinung beeinflussen lassen wollte, dass er einfach nur ausgerissen war, doch als man seine Freunde erneut vernahm und entsprechenden Spuren nachging, ergaben sich eindeutige Erkenntnisse, die Victors Geschichte erhärteten.
Taylor war ein Handwerker, der manchmal Aufträge von der Stadt bekam. Er wohnte in einer Doppelhaushälfte am Stadtrand. Nachbarn erzählten der Polizei, dass er seit einer Woche nicht mehr zu Hause gewesen war. Sein Auto stand nicht in der Garage, und um seinen Hund kümmerte sich ein Nachbar, der das Gewinsel von dem Tier im Garten nicht länger hatte mit anhören können. Fragen nach Taylors Privatleben wurden mit ausweichendem Achselzucken beantwortet. Nein, anscheinend hatte er keine Partnerin – auch keinen Partner. Aber die Anwohner der Straße kannten Paul Hill, der dann und wann kleinere Arbeiten für Taylor erledigt hatte, wie sie sagten. Die Polizei besorgte sich einen Durchsuchungsbefehl für Taylors Haus.
In einem Geheimfach hinter der Holzverkleidung im Wohnzimmer fanden sie Kinderpornos: Zeitschriften, Filme und Fotos. Manche waren
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