Sine Culpa
wir ihn auf dem Kieker haben. Vielleicht sollten wir jetzt da reingehen. Falls wir was finden, könnten wir ihn festnehmen, und vielleicht packt er ja dann im Verhör aus.«
»Das ist ein bedeutsame Entscheidung«, sagte Fenwick, nicht so abschätzig, wie ihm zumute war, weil er ihnen Respekt schuldete. »Und danach gibt es kein Zurück mehr. Nein, ich denke, das Ass behalten wir noch im Ärmel. Ich möchte das Depot lieber überwachen lassen. Wenn Ball es benutzt, wer weiß, wer da sonst noch auftaucht.«
»Das wäre dann ein drittes Überwachungsteam«, sagte Clive vorsichtig, was mit beifälligem Gemurmel quittiert wurde.
»Ich weiß, und wir haben unser Überstundenkonto für diesen Monat schon restlos überzogen, aber ich denke, wir sind mit der Ermittlung an einem Punkt angelangt, wo es heißt, ›jetzt oder nie‹, und wir sollten noch einmal alle Kräfte mobilisieren, ehe wir aufgeben.«
Die Aufgaben wurden verteilt, eine weitere Besprechung für den nächsten Tag anberaumt, um die Ergebnisse zu vergleichen, und das Team ging auseinander. Während die anderen den Raum verließen, blieb Alison vor einer der Tafeln stehen.
»Ist noch was?«, fragte Fenwick.
»Diese vermissten Kinder, Sir. Wollen wir die einfach ignorieren?«
Er trat zu ihr, wandte aber den Fotos den Rücken zu.
»Solange wir mit der Chorknaben-Ermittlung im Dunkeln tappen, haben wir keine Handhabe, um irgendwas zu unternehmen.«
»Ja, aber …«
»Ich weiß, das ist nicht leicht, aber wir könnten sowieso nicht nach ihnen suchen, es sei denn, hinter ihrem Verschwinden würde irgendeine Verbrecherorganisation stecken. Aber Sie wissen selbst, dass das unwahrscheinlich ist. Das sind Ausreißer, Vermisste, eine traurige Statistik, aber kein Fall für die Polizei.«
»Bis einer davon Ihr eigenes Kind ist«, sagte Alison, »und Sie einfach nicht glauben können, dass Ihr Sohn Ihnen davongelaufen ist.«
Darauf hatte Fenwick keine Antwort. Er wusste, was er erwarten würde, wenn Chris verschwände, und Alison hatte auch einen Sohn. Er verstand, dass sie die Jungen, deren Gesichter ihnen zulächelten, nicht so einfach übergehen wollte.
»Machen wir weiter«, sagte er schließlich.
Aber nachdem sie gegangen war, drehte er sich um und starrte die Tafel an, auf der rund dreißig Fotos von Jungen zwischen zwölf und sechzehn hingen. Nachdenklich fing er an, die Bilder neu anzuordnen: Blonde Jungen nach links, rothaarige in die Mitte, braune daneben und ganz rechts die dunkelhaarigen. Zwei von den dunkelhaarigen kamen ihm bekannt vor. Er nahm ihre Fotos von der Tafel, ging damit zu einem Schreibtisch und verglich sie mit den Bildern von Paul und Malcolm in seiner Aktentasche. Die Ähnlichkeit war verblüffend, vor allem die zwischen dem Jüngeren der beiden und Paul.
Er drehte das Foto um und las die mageren Angaben auf der Rückseite; es war natürlich Sam Bowyer. Er verzog das Gesicht, als er an seine letzte Begegnung mit Sams Vater dachte. Die andere Fotografie war ihm neu. Er drehte sie um und las: » Jack Trainer , 15 . Seit November letzten Jahres vermisst .« Daneben stand in schwarzer Tinte: » Gestorben London , 16 . Juli ; Feststellung des Coroners liegt noch nicht vor , wahrscheinlich Selbstmord ; vermutlich von der Blackfriars Bridge gesprungen . Spuren von massivem Drogenkonsum und anhaltendem sexuellem Missbrauch .«
Fenwick betrachtete das heitere Foto von Jack irgendwo am Strand mit seiner Familie und schob das Bild zusammen mit dem von Sam in seine Tasche. Eine »traurige Statistik«, hatte er das wirklich gesagt? Er schämte sich.
Sarah Hill wusste noch nichts von Maidments Festnahme, als sie am nächsten Morgen die Haustür öffnete, um die Milch hereinzuholen, die ihr jeden Morgen geliefert wurde: Zwei Flaschen, eine für sie und eine für Paul. Sie schüttete die meiste Milch weg, aber so hatte sie immer genug im Kühlschrank, für den Fall, dass er nach Hause kam.
Als sie die Tür öffnete, sah sie einen jungen Mann an der Hauswand stehen, und ihr Herz machte einen Satz. Doch als er ihr das Gesicht zuwandte, sah sie seine Augen, und ihre Hoffnung erstarb, wie jeden Tag ungezählte Male.
»Mrs. Hill? Ich bin Jason MacDonald vom Enquirer «,er hielt ihr die Hand hin, und sie ergriff sie automatisch. »Darf ich hereinkommen?«
»Wieso?« Sarah hatte das bisschen Höflichkeit, das sie besaß, an dem Tag verloren, als Paul verschwand. MacDonald schlug einen besorgten Tonfall an und legte den Kopf leicht schief, was
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