Sine Culpa
schüttelte langsam den Kopf. Sie sah Tränen auf seinen Wangen und hob die Hand, um sie wegzuwischen. Sein Gesicht war kalt, als wäre er an einem kalten Wintertag gerade hereingekommen, aber er war ja tot, also was hatte sie anderes erwartet?
» Lass los , Mum . Du hast deinen Frieden verdient . Es ist so lange her du musst deine Trauer jetzt begraben .«
Sarah schüttelte zornig den Kopf und schob seine Hand weg. Wer war er denn, dass er ihr etwas über Trauer erzählen wollte? Er war tot, hatte alles hinter sich. Was sie mit ihrem Leben machte, war ihre Sache. Allmählich fühlte sie sich stärker. Andere Gefühle als Trauer und Hoffnungslosigkeit erblühten in ihr: Hass, Wut, ein grässlicher Neid auf alle, die Kinder hatten, und der Wunsch nach Rache.
Als sie aufwachte, lag das Bettzeug auf dem Boden, daneben die zersprungene Nachttischlampe. Draußen war es dunkel. Im Schein der Straßenlampen konnte sie drei Reporter und einen Fotografen warten sehen, der Rest war verschwunden. Ohne Licht zu machen, ging sie hinunter in die Küche, wo sie das Lämpchen von der Dunstabzugshaube anknipste. Sie war halb verhungert und briet sich Eier vom letzten Monat mit ausgetrocknetem Schinkenspeck und Tomaten, dazu aß sie alten Toast und spülte alles mit einem starken Tee hinunter, in den sie einen kräftigen Schuss Whisky gab. Die Flasche hatte sie ganz hinten im Schrank entdeckt.
Sie fühlte sich besser und begann das Haus zu putzen. Nun war ihr egal, ob die Reporter mitbekamen, dass sie wach war, denn sie fühlte sich stark genug, mit ihnen fertigzuwerden. Beim Saubermachen entwickelte sie einen Plan, der immer konkreter wurde. Der Keim dazu war schon beim Aufwachen da gewesen, und jetzt wurde ihr klar, dass er die Quelle ihrer neuen Energie war. Für den Hausputz brauchte sie die ganze Nacht und fast den ganzen folgenden Vormittag. Dann nahm sie ein Bad und wusch sich das Haar. Es war ungepflegt und grau, aber sie wusste noch, wie man es hochsteckte, und probierte verschiedene Frisuren aus, bis sie zufrieden war. Inzwischen war es kurz vor Mittag, aber sie fühlte sich nicht müde. Sie inspizierte ihre Garderobe und schnalzte angesichts der schäbigen Kleider mehrfach missbilligend mit der Zunge. Ihr Kostüm war zehn Jahre alt, und das sah man ihm an, aber es war wenigstens sauber. Die Schuhe waren abgelaufen, und sie hatte keine Strumpfhose mehr, weil sie nur noch Nylonkniestrümpfe trug. Das ging nicht. Vielleicht konnte sie sich zur Hintertür hinausschleichen und sich in Harlden eine neue Strumpfhose kaufen.
Als sie durch den Garten verschwand und den Bus in die Stadt nahm, ging sie ihren Plan noch einmal durch und feilte ihn aus. Als sie zurückkam, hatte sie alles ganz klar im Kopf. Sie machte sich einen tiefgekühlten Kartoffelauflauf warm und zog sich um. Dann griff sie zum Telefon.
19
Das Verhör am nächsten Tag war das bislang intensivste. Es fand nicht in Harlden statt, sondern auf einem namenlosen Polizeirevier nicht weit vom Gefängnis, in einem säuerlich riechenden Vernehmungsraum. Maidment verzichtete auf die Anwesenheit seines Anwalts. Der arme alte Stenning verkraftete den Druck der unaufhörlichen Fragen nicht und hatte einen nervösen Tick entwickelt, der Maidment störte.
Er beobachtete, wie Fenwick zwei Kassetten frisch aus der Zellophanverpackung nahm und in den Rekorder schob. Die zweite Kassette würde nach dem Verhör datiert und versiegelt werden, um zu verhindern, dass die Polizei Beweise manipulierte. Maidment hielt diese Vorsichtsmaßnahme bei Fenwick für überflüssig. Er erkannte, wenn ein Mensch Integrität besaß.
Nightingale war bei ihm, heute still und nachdenklich. Fenwick ergriff das Wort.
»Wo waren Sie am 16. Dezember 1994?« Das war eines der Daten, die das FBI von einem festgenommenen Briten erfahren hatte. Angeblich war es an dem Tag zu einer Orgie mit kleinen Jungen gekommen und zwar in einem großen Haus in Sussex. Der Brite hatte im Verhör behauptet, die Adresse nicht zu kennen.
Maidment schloss kurz die Augen und überlegte.
»In Harlden, bei der Arbeit.«
»Können Sie das beweisen?«
»Sie haben doch meine Tagebücher.«
»Die haben wir überprüft – kein Eintrag.«
»Hmm, seltsam. Muss ein ruhiger Tag gewesen sein.«
»Ich finde es ungewöhnlich, dass Sie sich noch genau erinnern, wo Sie an dem Tag waren.«
»Das ist so eine Eigenart von mir. Ich hab ein gutes Gedächtnis für Fakten und Zahlen einschließlich Daten. Fragen Sie mich ruhig noch
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