Singularität
Monate im Gefängnis verbracht.
Ein Agrarkartell hat mich wegen angeblicher Industriespionage
rangekriegt. Amnesty Multinational hat den Fall aufgegriffen, meine
Inhaftierung als Geiselnahme in wirtschaftlichen Auseinandersetzungen
publik gemacht und dafür gesorgt, dass ein Handelsembargo gegen
das Kartell verhängt wurde: Das hat mich relativ schnell wieder
herausgebracht.« Zwar waren die Erinnerungen verblasst und ihr
ursprünglich heftiger Zorn über die Inhaftierung schon fast
verraucht, dennoch zuckte sie beim Gedanken daran zusammen. Es war
nicht die längste Gefängnisstrafe gewesen, die sie
abgesessen hatte, aber sie hatte nicht vor, dieses Thema ausgerechnet
jetzt auszuweiten.
Er schüttelte den Kopf und lächelte schwach. »Aber
die Neue Republik ist ja für alle wie ein Gefängnis, meinst
du nicht?«
»Hm.« Sie starrte durch ihn hindurch auf die hintere
Wand. »Wenn wir schon dabei sind: Ich glaube, du
übertreibst vielleicht ein bisschen.«
»Na ja, zumindest musst du doch zugeben, dass sie alle
Gefangene der eigenen Ideologie sind, oder nicht? Zweihundert Jahre
gewaltsamer Unterdrückung haben ihnen nicht viel Spielraum
gegeben, die eigene Gesellschaft mal aus der Entfernung zu betrachten
und sich anderswo umzuschauen. Deshalb haben wir ja jetzt diesen
Schlamassel.« Er lehnte sich zurück und stützte den
Kopf gegen die Wand. »Entschuldigung, ich bin müde. Hab
eine Doppelschicht mit der Feinkalibrierung des Antriebs zugebracht
und danach war ich noch vier Stunden auf der Glorreich, hab Feuerwehr
bei ihren Problemen mit oxidierenden Schaltern gespielt, es ging um
Schaltungen im RCP, im Revisionskontrollsystem.«
»Du bist entschuldigt.« Rachel knöpfte ihr Jackett
auf und beugte sich danach hinunter, um die Stiefel abzustreifen.
»Autsch!«
»Wunde Füße?«
»Verdammte Marine, immer auf den Beinen. Außerdem
sieht’s dumm aus, wenn ich so herumhumpele.«
Er gähnte. »Um das Thema zu wechseln: Was werden die
Streitkräfte des Septagon deiner Meinung nach
unternehmen?«
Sie zuckte die Achseln. »Vermutlich werden sie uns die
Hölle heiß machen und mit vorgehaltener Waffe dazu
zwingen, schnellstens von hier zu verschwinden. Außerdem werden
sie die Neue Republik zu Kompensationszahlungen drängen. Das
sind Pragmatiker, die halten nicht viel von Geschwätz über
nationale Ehre oder so hehre Tugenden wie Mut, heroisches Mannestum
und dergleichen.«
Martin setzte sich auf. »Falls du deine Stiefel ausziehst,
werde ich, wenn es dir nichts ausmacht…«
Sie winkte ab. »Fühl dich als mein Gast.«
»Ich dachte, ich sollte mich wie dein loyaler Untertan
fühlen?«
Sie kicherte. »Komm bloß nicht auf Ideen, die über
deinen Horizont gehen! Also wirklich, diese verdammten Monarchisten!
Ich verstehe sie, rein theoretisch betrachtet, aber wie halten die
das nur aus? Ich würde wahnsinnig werden, das kann ich dir
schwören. Innerhalb von zehn Jahren.«
»Hm.« Mit seinen Schuhen beschäftigt, beugte er
sich vor. »Betrachte es mal aus anderer Perspektive. Die meisten
Menschen bei uns zu Hause sitzen mit ihren Familien und Freunden
herum, führen ein gemütliches Leben und tun nicht mehr als
drei, vier Dinge gleichzeitig: Sie machen Gartenarbeit, entwerfen
irgendwelche Verkaufsschlager, malen Landschaften und ziehen ihre
Kinder groß – etwas in dieser Art jedenfalls. Sie
ähneln Insektenkundlern, drehen die kleinen Dinge des Lebens um
und sehen nach, was darunter ist und mit den Beinchen zuckt. Warum,
zum Teufel, tun wir das nicht auch?«
»Ich hab’s früher getan.« Er blickte neugierig
zu ihr hoch, aber sie war in Gedanken ganz wo anders, in ihre
Erinnerungen vertieft. »Hab dreißig Jahre als Hausfrau
verbracht, kannst du’s glauben? Wir waren gute,
gottesfürchtige Leute. Mein Ehemann hat die Familie versorgt,
wir hatten zwei entzückende Kinder, die wir abgöttisch
liebten, und Haus und Garten in der Vorstadt. Jeden Sonntag sind wir
zur Kirche gegangen. Und nichts – absolut nichts – hat uns
erlaubt, mit dieser zur Schau getragenen Konformität zu
brechen.«
»Aha. Hab mir schon gedacht, dass du älter sein musst
als du aussiehst. Ende sechzig, aber verjüngt?«
»Welche sechzig meinst du?« Sie schüttelte den
Kopf, um gleich darauf die eigene rhetorische Frage zu beantworten.
»Mach eine eins vor die sechzig, dann hast du’s in etwa.
Ich bin neunundvierzig geboren und in einer Familie von Baptisten,
einer Stadt von Baptisten aufgewachsen. Es ist eine stille Religion,
nach dem
Weitere Kostenlose Bücher