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Singularität

Singularität

Titel: Singularität Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Stross
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Eschaton hat sie sich ganz nach innen gekehrt.
Wahrscheinlich deshalb, weil wir alle so verzweifelte Angst hatten.
Es ist so lange her, dass ich Mühe habe, mich daran zu erinnern.
Eines Tages war ich achtundvierzig Jahre alt, die Kinder waren aus
dem Haus und gingen zur Universität, und da merkte ich, dass ich
kein Wort dieser Religion glaubte. Damals hatten sich die
Behandlungen zur Verlängerung des Lebens schon durchgesetzt, und
der Pastor hatte aufgehört, sie als Teufelswerk zu verdammen
– nachdem sein eigener Großvater ihn im Squash geschlagen
hatte. Und plötzlich wurde mir klar, dass mein Tag völlig
inhaltslos gewesen war und vielleicht noch eine Million solcher Tage
folgen würden. Dabei gab es so viele Dinge, die ich noch nie
getan hatte und niemals tun würde, wenn ich die Alte blieb. Und
ich hatte ja eigentlich gar keinen richtigen Glauben. Religion war
die Sache meines Mannes gewesen, ich hatte nur mitgemacht. Deshalb
bin ich dann ausgezogen und hab mich behandeln lassen. In sechs
Monaten hab ich zwanzig Jahre abgeschüttelt. Hab die
übliche Sterling-Fugue [xvii] durchgemacht, meinen Namen geändert, mein Leben geändert,
fast alles an mir geändert. Hab mich einer anarchistischen
Kommune angeschlossen, zu jonglieren gelernt, an radikalen Aktionen
gegen Gewalt teilgenommen. Harry – nein, Harold – ist damit
nicht klar gekommen.«
    »Zweite Kindheit. So ähnlich wie die Teenagerphase im
zwanzigsten Jahrhundert.«
    »Ja, genau…« Sie starrte Martin an. »Und wie
steht’s mit dir?«
    Er zuckte die Achseln. »Ich bin jünger als du. Aber
älter als fast alle an Bord dieses idiotischen Kinderkreuzzugs.
Abgesehen vielleicht vom Admiral.« Eine Sekunde lang, nur ganz
kurz, wirkte er gequält. »Du solltest nicht hier sein. Und
ich auch nicht.«
    Sie sah ihn an. »Dich hat’s wirklich schlimm erwischt,
wie?«
    »Wir sind…« Er biss sich auf die Zunge, warf ihr
einen merkwürdig wachsamen Blick zu und setzte zu einem neuen
Satz an. »Diese Reise ist verflucht. Ich nehme an, das
weißt du.«
    »Ja.« Sie blickte zu Boden. »Ich weiß
es«, sagte sie gelassen. »Falls ich nicht irgendeine Art
von Waffenstillstand vermitteln oder sie dazu überreden kann,
die Hände von Waffen zu lassen, die die Kausalität
verletzen, wird das Eschaton einschreiten. Wahrscheinlich einen
Kometen aus Antimaterie auf sie werfen oder so.« Sie sah ihn an.
»Was meinst du?«
    »Ich meine…« Wieder hielt er inne und wandte den
Blick ab, als wollte er ihr irgendwie ausweichen. »Falls das
Eschaton einschreitet, befinden wir uns beide am falschen
Ort.«
    »Ha, wie schön, das zu wissen.« Sie zwang sich zu
einem Grinsen. »Also, woher stammst du? Mach schon, ich hab dir
auch erzählt…«
    Martin streckte die Arme und lehnte sich zurück. »Ich
bin in einem Bauerndorf in den Bergen von Yorkshire aufgewachsen. In
einem Dorf voller Ziegen, Proleten und düsterer, teuflischer
Fabriken, in denen weiß Gott was hergestellt wurde. O ja, nicht
zu vergessen der obligatorische Frettchentanz im Pub an
Dienstagabenden, für den Tourismus, der sich
auskannte.«
    »Frettchentanz?« Rachel sah ihn ungläubig an.
    »Jawoll. Man bindet sich den Kilt mit Isolierband am Knie
zusammen – wie du vermutlich weißt, würde sich ein
Mann aus Yorkshire nie und nimmer dazu hergeben, irgendetwas unter
seiner Felltasche zu tragen – und packt ein Frettchen beim
Genick. Ein Frettchen ist, äh, ein bisschen wie ein Nerz. Nur
nicht so freundlich. Der Frettchentanz ist eine Art Initiationsritus
für junge Männer. Man steckt sich das Frettchen da hin, wo
die Sonne nie hinkommt, und tanzt den Pelztanz zu den Klängen
einer Balalaika. Und dann geht’s darum, wer am längsten
durchhält und so weiter, ein bisschen wie bei den alten Buren,
nur wollten die wissen, wer am längsten küssen kann.«
Martin schüttelte sich theatralisch. »Ich hasse Frettchen.
Die verdammten Biester sind so scharf wie ein fassvergorener Single
Malt Whisky, nur haben sie nicht die angenehmen
Nebenwirkungen.«
    »So also hast du die Dienstage verbracht.«
Allmählich verzog sich Rachels Miene zu einem Lächeln.
»Erzähl mir mehr. Was hast du mittwochs getan?«
    »Oh, mittwochs sind wir zu Hause geblieben und haben uns
Wiederholungen von Coronation Road [xviii] angesehen. Damals gab es ein Remix der alten Videos, sodass sie eine
fast hundertprozentige Auflösung hatten, außerdem wurden
sie mit Untertiteln versehen, damit wir die Dialoge verstehen
konnten. Und danach haben wir

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