Sinnliche Versuchung in Italien
Schreckliches erlebt haben, sich einem anderen Menschen anvertrauen sollten. Wenn du nicht mit mir reden willst, dann such dir jemand anders, der dir zuhört. Das kann ein Therapeut oder eine dir nahestehende Person sein. Es sollte jedoch bald geschehen. Kannst du dir vorstellen, dich mit deinem Vater darüber auszutauschen?“
Warum ließ sie ihn nicht einfach in Ruhe? „Bereitet es dir Vergnügen, deine Finger in offene Wunden zu legen?“
„Nein. Ich bin mir nur sicher, du würdest das Gleiche tun, wenn ich Hilfe benötigte.“
Damit hatte sie ihn mit der Nase auf das gestoßen, wovor ihn schon der Psychiater gewarnt hatte: zu schweigen und alles mit sich selbst ausmachen zu wollen. Auf diese Weise würde er nämlich weiterhin der Gefangene seiner furchtbaren Erinnerungen bleiben.
Lucca schloss die Augen und neigte den Kopf zurück. „Fangen wir also an. Mein Vater hatte mir verboten, die Militärakademie zu besuchen. Ich bin jedoch gegen seinen ausdrücklichen Willen dorthin gegangen. Einerseits, weil ich das Fliegen erlernen wollte, andererseits vielleicht auch ein bisschen, um meinen Vater ständig daran zu erinnern, dass es mich gibt. Mein Beruf ist ja nicht ganz ungefährlich, wie ich schließlich am eigenen Leib erfahren musste.“ Er deutete auf sein verletztes Bein.
Annabelle setzte sich wieder. „Das wusste ich nicht.“
„Woher auch? Guilio spricht nicht über seine Ängste, schon gar nicht mit Fremden. Ich bin mir allerdings sicher, dass er sich Sorgen um mich gemacht hat, zumal sein Schwiegervater mit einer schweren Verwundung aus dem Zweiten Weltkrieg zurückgekehrt war.“
„Die Krücke … gehörte sie ihm?“
„Ja. Wenn Guilio jetzt von meinem Unfall erfährt, wird für ihn das Schicksal seines Schwiegervaters sofort präsent sein. Deshalb möchte ich ihm wenigstens schlimme Details vorenthalten. Überhaupt ist es sowohl für mich als auch für ihn besser, wenn ich bei unserem Wiedersehen einen stabilen Eindruck mache. Verstehst du nun, weshalb er der Letzte wäre, dem ich mich offenbaren will?“
„Es tut mir leid, Lucca.“
So mitfühlend und verständnisvoll hatte ihn schon lange niemand mehr angesehen. Ihre Reaktion überraschte und berührte ihn. Sie weckte Gefühle in ihm, von denen er bisher nichts geahnt hatte. „Mir auch.“
„Ich danke dir, dass du mich eingeweiht hast. Vielleicht erzählst du mir später mehr.“
„Mehr ist nicht zu berichten.“
„Oh, doch.“ Sie stand auf und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Dann stellte sie ihren Sessel an den Tisch zurück und ging mit ihrer leeren Tasse in der Hand ins Haus.
Er blieb sitzen und schaute brütend vor sich hin. Er musste unbedingt den Arzt in Neapel anrufen, dessen Adresse er von den Leuten im Krankenhaus bekommen hatte. Zumindest einen Termin sollte er rasch mit ihm ausmachen.
Irgendwann hörte Lucca, wie Annabelle davonfuhr, und ein Gefühl der Leere überkam ihn. Warum ging sie ihm nicht mehr aus dem Kopf? Warum gerade sie? Diavolo !
Annabelle machte sich schwere Vorwürfe, denn sie hatte Lucca geradezu genötigt, sich ihr zu öffnen. Das nahm er ihr jetzt bestimmt übel. Andererseits hatte er, wie sie fand, einen Schritt in die richtige Richtung getan. Doch durfte man einen Menschen zu seinem Glück zwingen?
Wie würde Guilio reagieren, wenn er seinen Sohn wiedersah? Allein dessen Anblick würde ihm einen Stich versetzen, und dass Lucca nicht gleich zu ihm gekommen war, bestimmt auch. Und Lucca belastete es ebenfalls, weil er das alles wusste.
Ihr war klar, dass er ihr längst nicht alles erzählt hatte. Wie es in ihm aussah, behielt er für sich. Ihr lief ein Schauder über den Rücken, weil sie ahnte, wie er sich quälte. Das Problem mit dem Vater machte alles noch schlimmer. Sie hätte gern den beiden Männern geholfen, denn sie mochte sie. Doch sie durfte und wollte nicht die Vermittlerin spielen.
Wo war sie da nur hineingeraten? Wie eine Verräterin kam sie sich vor, weil sie sowohl dem einen wie dem anderen etwas verschwieg. Bisher hatte sich Lucca mit ihren wenigen Erklärungen zufriedengegeben und war nicht weiter in sie gedrungen. Irgendwann würde er es aber tun.
Besser, sie gab ihm keine Gelegenheit dazu und zog noch heute Abend in die kleine Pension. Gleich nach dem Shooting. Falls sie jemals dort ankäme bei diesem Verkehr. Sie brauchte all ihre Konzentration, um sich zurechtzufinden. Endlich erreichte sie das Hotel Europa, von dem man einen Blick über die Piazza Sant’Andrea
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