Sinnliches Erwachen
Lager seines Vaters zurückzukehren und alles und jeden auszulöschen.
Es war der beste Tag seines Lebens gewesen.
Mit schmerzenden Fingern griff er nach dem Felsen über sich. Jetzt gehöre ich zu dieser neuen Armee, angeführt von einem Mann, der einst nur als „Eisprinz“ bekannt gewesen war. Morgen würde Zacharel ihn mit einer neuen Mission betrauen, die weit unter seinen Möglichkeiten lag. Mittlerweile wusste Koldo das, denn schon die letzten drei Wochen über hatte sein Anführer ihn jeden Tag ausgeschickt, ohne auch nur einen Moment zu riskieren, in dem er ein himmlisches Gesetz brechen und dafür vor Gericht kommen könnte. Glaubte er zumindest.
Koldo konnte lügen.
Koldo konnte stehlen.
Koldo konnte töten.
Er konnte alle möglichen Dinge tun, die seine Art nicht tun durfte. Aber das würde er nicht.
Dankenswerterweise musste er sich wenigstens keine Gedanken darum machen, dass man ihn noch einmal mit Axel zusammenstecken könnte. Zacharel wies ihm gern für jede Mission einen neuen Partner zu, wahrscheinlich, um ihn auf Trab zu halten.
Traurigerweise funktionierte es.
Und doch, einen Lichtblick gab es, wurde ihm klar. Das Mädchen aus dem Krankenhaus in Wichita, Kansas. Die Rothaarige. Er wollte sie immer noch sehen.
Bestimmt war sie nicht so winzig, wie er sich zu erinnern meinte. Nach allem, woran er sich erinnerte, könnte sie genauso gut die langen, schlanken Beine einer Tänzerin besitzen. Bestimmt hatte ihr Haar nicht dieses süße Rotblond. Es musste Feuerrot oder ein gewöhnliches Dunkelblond sein. Bestimmt hatte er sich die Reinheit ihrer Stimme nur eingebildet. Bestimmt.
Er richtete sich auf, als die Aussicht auf ein Wiedersehen alles andere in den Hintergrund treten ließ. Er musste es wissen. Das Bedürfnis war wie ein lebendes Wesen in seinem Innern.
Erst einmal würde er sie jedoch aufspüren müssen.
2. KAPITEL
Den Rest der Nacht verbrachte Koldo damit, die himmlischen Archive zu durchwühlen, in denen alles über jeden Menschen zu finden war, der je gelebt hatte. Über die Blondine und den Rotschopf fand er einige interessante Details heraus. Das Mädchen, das im Koma lag, hieß Laila Lane, und die andere, die er beobachten wollte, war Nicola Lane. Sie waren Zwillinge, dreiundzwanzig Jahre alt – Nicola zwei Minuten älter als ihre Schwester – und unverheiratet.
So jung. Zu jung.
Die beiden waren eineiige Zwillinge. Blond war Laila nur, weil sie sich das Haar blondiert hatte, um „einzigartig“ zu sein. Die beiden hatten keine weitere Familie und verließen sich nur aufeinander. Ihre Eltern waren vor fünf Jahren bei einem Autounfall gestorben.
Koldo verließ die Bibliothek und beamte sich in Lailas Zimmer im Krankenhaus. Auch diesmal war Nicola nirgends zu entdecken. Doch das bereitete ihm keine Sorgen. Dem Tratsch der Krankenschwestern entnahm er, dass sie jeden Tag hierherkam. Er musste nur warten.
Er trat ans Bett. Diesmal war er nicht mit der Gabe des Höchsten gesegnet, deshalb erblickte er das blonde Mädchen anstelle des Dämons, der sich unter ihrer Haut versteckte.
Dieser Anblick war fast genauso schlimm.
Ihr Haar war trocken, dünn und verfilzt. Unter den Augen hatte sie dunkle Ringe, und ihre Lippen waren aufgeplatzt. Auf ihrer Haut lag ein deutlicher Gelbstich, offenbar versagte ihre Leber bereits.
Viel länger würde sie nicht durchhalten.
Das Wasser des Lebens war ein mächtiges Heilmittel, das selbst schlimmste Schäden im menschlichen Körper beheben konnte. Es war das Einzige, was sie noch retten könnte. Zugleich würde es sie von dem Dämon befreien. Doch im weiteren Verlauf würde es von ihren Gedanken, Worten und Taten abhängen, wie erfolgreich es wirkte.
Der Grzech könnte zu ihr zurückkehren und versuchen, sie von Neuem zu vergiften. Selbst wenn Koldo ihr also das Wasser des Lebens einflößte, würde sie lernen müssen, wie sie sich gegen die Mächte des Bösen zur Wehr setzen konnte – und es dann auch wirklich tun. Wäre sie bereit, sich in einen solchen Kampf zu stürzen?
Vielleicht. Vielleicht auch nicht. So oder so war Koldo nicht bereit, für sie zu leiden und ein Opfer zu bringen, und genau das würde er tun müssen, um auch nur ans Ufer des Lebensflusses zu gelangen. Zuerst würde man ihn auspeitschen. Dann müsste er etwas aufgeben, das ihm am Herzen lag. Beim letzten Mal hatte er sein Haar geopfert. Wer wusste, was man beim nächsten Mal von ihm verlangen würde. Seine Fähigkeit zur Teleportation? Seine gefangene
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