Sinnliches Erwachen
er zurück zu Nicola und ließ sich auf die Knie fallen. Prüfend hob er die Hand, ertastete die harte Hülle um sie herum und spürte bereits, wie sie dünner und nachgiebiger wurde. Schließlich blieb nichts als Luft zurück.
„Nicola“, sprach er sie an.
Beim Klang seiner Stimme zuckte sie zusammen und richtete sich ruckartig auf. Große, gewittrige Augen fanden sein Gesicht, und ihr entwich ein Wimmern.
„Es tut mir leid“, murmelte er. „Es tut mir so leid.“
Im nächsten Augenblick warf sie die Arme um ihn und drückte ihn fest an sich. Ihr zierlicher Körper bebte.
Laila blieb weiter zusammengekauert, die Augen geschlossen, gleichmäßig atmend. Sie hat das Bewusstsein verloren, begriff er.
Vorsichtig lehnte er sich zurück und legte die Hände an Nicolas tränennasse Wangen. „Was ist passiert?“
„Ich hab Laila überredet, mit in mein Zimmer zu kommen, damit ich ihr vorlesen konnte. Im einen Moment war noch alles gut, und im nächsten kamen von überallher Dämonen. Ich glaube nicht, dass Laila sie sehen konnte, aber sie hat sie gespürt, und sie hat geschrien. Die wollten uns umbringen, nicht bloß mit ihrem Gift verpesten. Die wollten, dass du unsere blutüberströmten Leichen findest. Ich hab’s gerade so geschafft, mich über Laila zu werfen und auf die Tattoos zu starren, wie du gesagt hast.“
Die nächste Woge der Erleichterung durchfuhr ihn und ließ ihn zitternd zurück. „Du hast genau das Richtige getan.“
Erschöpft sackte sie gegen ihn. „Ich hatte solche Angst.“
„Und trotzdem hast du diese Angst abgeschüttelt und gehandelt.“ Sanft strich er ihr über den Rücken, fuhr mit den Fingern über ihr Rückgrat. „Es tut mir leid, dass ich dich angeschrien habe. Dass ich von dir verlangt habe, einem anderen lebenden Wesen Schaden zuzufügen. Dass ich versucht habe, dich auf mein Niveau herunterzuziehen, dir meinen Schmerz aufzuzwingen. Dass ich dich allein gelassen habe. Dass ich nicht hier war, als du meine Hilfe brauchtest.“
Warme Tränen tropften auf seine Brust. „Ich vergebe dir.“
So mühelos. Einfach so. Das trieb auch ihm die Tränen in die Augen. Sie hätte ihm seine Entschuldigung vor die Füße werfen können. Hätte nach einer Möglichkeit suchen können, sich zu rächen – und er hätte es verdient. Stattdessen schloss sie ihn in die Arme.
„Und mir tut es leid, dass ich dich die letzten Tage über ignoriert habe“, erklärte sie. „Ich hab versucht, dir Zeit zu geben, damit du dich ohne Druck von meiner Seite mit deinen Problemen auseinandersetzen konntest, obwohl ich dich eigentlich die ganze Zeit einfach nur küssen wollte. Oder erwürgen. Da war ich mir nicht ganz schlüssig.“
Und jetzt entschuldigte sie sich bei ihm .
Ich liebe diese Frau, ging ihm auf. Von ganzem Herzen, mit ganzer Seele.
Wie ein Vorschlaghammer traf ihn dieses Wissen und riss ein riesiges Loch, durch das endlich Licht in sein Innerstes strömte und Schwärme von widerlichem Krabbelgetier beleuchtete, all die üblen Dinge, die er in sich hineingefressen hatte. Zischend und fauchend wichen die Wesen vor der Wärme und dem Licht zurück.
Er liebte Nicola Lane.
Doch noch war er ihrer nicht würdig.
Ihr Herz war rein, unbefleckt. Seines war besudelt. Ihre Hoffnungen und Träume waren so lieblich. Seine waren immer finster und gewalttätig gewesen. Und selbst als sie ein ähnlich düsteres Verlangen verspürt hatte, war es ihr gelungen, darüber hinwegzukommen.
Sie wollte die Welt bereisen, hatte sie ihm einmal erzählt. Wollte aus einem Flugzeug springen, einen Elefanten streicheln und auf dem Dach eines Wolkenkratzers tanzen. Und diese Dinge konnte er ihr geben. In diesem Moment war das seine einzige Rettung. Eine Rettung, die er ergreifen würde. Er würde sich ihre Liebe erarbeiten – sie sich verdienen –, was es auch kosten mochte.
Und dann, wenn er ihrer würdig war, würde er sie heiraten, wie es Brauch war bei seinem Volk. Würde ihr Leben dauerhaft an seines binden, ihre Lebensspannen verschmelzen. Ohne sie konnte er nicht sein.
Ich muss meine Mutter gehen lassen.
Jeder Muskel in seinem Leib verkrampfte sich, und augenblicklich lehnte sein Geist sich mit aller Macht auf. Nein, nein. Das konnte er nicht. Er konnte sich nicht von seinem Rachedurst lösen. Doch es hieß entweder Rache oder Nicola. Beides konnte er nicht haben. Dann würde seine Mutter auf ewig zwischen ihnen stehen, eine Mauer, die einzureißen er nicht einmal hoffen konnte.
Also ja, er
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